Ein albes [beiges] Schaf

Es war im Spätsommer, als der Kleinbachbauer Hannis mit seiner Frau und den sechs Kindern in den Bergwiesen oberhalb von Obertilliach war, um das Heu in die dortigen Schupfn zu bringen.

Heiß war es und zuweilen wussten die jüngeren der Kinder nicht so recht, was sie tun sollten, denn für die schwere Arbeit waren sie noch zu schwach. So tummelten sie herum, spielten "Löschtl" und waren recht laut und übermütig.

Allzu weit wagten sie sich aber nicht von ihren Eltern fort, denn man fürchtete sich vor der „Wilden Fohre“, die zu bestimmten Zeiten hier ihr Unwesen trieb und den Bergmähern allerlei Schaden zufügte und sie das Fürchten lehrte. So hieß es jedenfalls bei den alten Leuten im Dorf und daran glaubte man fest, denn mit solchen Sachen sollte man kein Schindluder treiben.

Die kleine Kati war gerade drei Jahre alt geworden und somit die jüngste der Kleinbachkinder. Kati war ein unbeschwertes sonniges Wesen, ihre goldigen Haare hatte sie stets zu Zöpfchen geflochten und wenn sie lachte, funkelten ihre Augen wie zwei Sternchen. Sie war ein sehr gesprächiges Mädchen und zu allen Leuten sehr zugänglich. Kein Wunder , dass sie der Liebling der Eltern war. Auch heute hörte man sie von weitem lachen und reden. Die drei ältesten Buben packten schon fleißig mit an und so ging die Arbeit bald dem Ende zu.

Gerade als der Bauer das Heu in die Schupfe gabelte, kam die Kathi auf ihn zu: „Tate, sott i dir a keidl Wosso van Brinnlan bring?“, fragte die Kleine besorgt, da sie sah, wie ihr Vater schwitzte.“Sei so guit, Gitschile“, meinte der Bauer und sah seinem Kind nach. War sie doch so allerliebst, wie sie losrannte, wie ein kleines Schaf mit ihrem alben Röcklein, das sie trug.

Es war eine Weile vergangen, als sie Mutter plötzlich nach dem Kinde fragte:“Jo, wo isch en die Kathi sou longe?“. Das Kind war noch nicht von der nahegelegenen Quelle zurückgekehrt. Die Eltern wurden unruhig, ließen ihre Rechen fallen und mit ihren anderen Kindern eilten sie zum Brünnl unterhalb der Schupfn.Wie erschraken sie, als sie das Kind dort nicht antrafen, nur die kleine Blechkanne lag unmittelbar vor ihnen im Grase. Wie ein Blitz durchfuhr es die Eltern. „Jeisis na“,rief die Mutter entsetzt aus, „weard et die Wilde Fohre mei Kind durchhobm“. Sie schrie lauf auf in ihrem Schmerz und in ihrer Verzweiflung, denn soweit das Auge reichte, nirgends war ihre Kathi zu sehen. Lange riefen und suchten sie nach dem Kinde, allein, es war vergebens.

In ihrem Schmerz suchte die Familie den Ortsseelsorger auf.

Dieser betete lange und inbrünstig, blickte zum Himmel und meinte nach langer Zeit.“ Liabe Leit, i kann enk hiatz et weitahalfn, abo wenn enk oans affot frog, ob enk eppas fahlt, dann sog af alle Fälle ja. Abo geaht hiatz hoam und batit fest, dann wird enk wo giholfn!“

Die Jahre vergingen, die Mutter war seit diesem Tag ergraut und tiefe Sorgenfalten durchzogen ihr Gesicht. Doch die Zeit heilt Wunden sagt man, und die Familie hatte den schrecklichen Tag vergessen. Andere Sorgen und auch Freuden hatten dazu beigetragen. Die Kinder waren inzwischen erwachsen und verheiratet und die Kleinbachbauern waren stolze Großeltern. Sie hatten viele ihrer „ Enkilan“ stets um sich.

Eines Tages betrat eine fremde Frau die Stube bei den Bauern. Sie war groß, von schöner anmutiger Gestalt und ihr Haar schimmerte golden im Kerzenlicht. Etwas Wehmut lag in ihren Augen, aber sie hatten zugleich auch ein hoffnungsvolles Funkeln. Die Frau trug ein „albes“* Tuch um ihre Schultern und bückte sich zu den alten Leuten hinunter, die beim Stubenofen saßen und nur verwundert schauten. Die Fremde erkundigte sich nach dem Befinden der alten Bauersleute und fragte, ob es ihnen auch an nichts fehle. „Na, na, mir om olls, wos mo brauchn“, meinte der Bauer zufrieden. „Fehlt euch nicht etwa ein albes Schaf?“, fragte die Frau eindringlicher. Doch als die alten Leute nur verneinend schüttelten, wandte sich die Fremde traurig ab. Sie erhob sich und verschwand zur Tür hinaus, ehe das alte Ehepaar wusste, wie ihm geschah.

Wie erstarrt saßen die beiden da. „Dos isch insra Kathi giwan“, stotterte der Bauer und Tränen standen in seinen Augen. Die Mutter war noch immer wie versteinert und brachte kein Wort über ihren Lippen. Von diesem Tag an redeten die betagten Leute kein Wörtchen mehr mit den Ihrigen, denn sie hatten es verabsäumt, ihre Tochter zurückzuholen.

Bald darauf erkrankten die beiden, wohl auch vor Kummer und Selbstmitleid. Sie verstarben alsbald, doch ihre Nachkommen erzählten sich immer wieder von dieser seltsamen Begegnung in der Stube.

* albe = beige

Maria Bucher nach einer Überlieferung ihrer Großeltern.

Quelle: Maria Bucher, Ein albes Schaf, gesammelt von der 3. Volksschulklasse Obertilliach (Lucas Ebner, Johannes Obererlacher, Philipp Obererlacher) und der 4. Voksschulklasse Obertilliach (Raphaela Bucher, Julia Ganner) mit ihrem Lehrer Andreas Mitterdorfer, Emailzusendung vom 19. Dezember 2005