Der Geist zu Weißenstein

Einst gingen zwei Leute nach der Wallfahrt zu Weißenstein, ziemlich weit links dem Etschtale auf dem Mittelgebirge gelegen. Sie hörten dort, wie üblich, ein paar heilige Messen und gingen dann nach den Trümmern einer ehemaligen Einsiedelei. Dort nahmen sie eine hohe Felswand wahr, an welcher eine Stiege von zwölf glatt gehauenen Steinen niederführte, wo sich eine in den Fels gebrochene Nische zeigte. In dieser Nische schien wahrhaftig auf einer Steinbank der alte vorheimische Einsiedler selbst zu sitzen, nur trug die Gestalt, die da drunten kauerte, kein Eremitengewand, sondern erschien im schwarzen breitkrempigen Hut, im Lodenhemd, kurzen Beinkleidern, grauen Wollstrümpfen, in sich gebeugt, die gefalteten Hände auf dem Schöße ruhend und in die dicht vor ihm aufgähnende schwarze Tiefe hinabstarrend. Stets und stets blieb diese Erscheinung unbeweglich. Da kam die beiden Wallfahrer ein Grauen an, und sie verließen den unheimlichen Ort. Als sie einem bejahrten Manne ihr Abenteuer erzählten, sprach dieser: "Ei, da hättet ihr eine arme Seele erretten können, hättet ihr das Männlein nur getrost angesprochen." Nach einiger Zeit gingen die beiden Freunde abermals nach Weißenstein, festen Entschlusses, womöglich die arme Seele zu erlösen, falls in dem Männlein eine solche wohne und diese sich wieder zeige. Allein sie fanden nicht nur kein Männlein wieder, sondern auch zu ihrer großen Verwunderung weder zwölf Stufen noch eine Vertiefung, noch eine Felsennische, noch eine Steinbank - von all diesen gar nichts, wie sehr sie auch rundum suchten. Die gute Stunde war unwiederbringlich dahin.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 393.