Die Blumenmalerin
Die reizende Tochter eines Ritters von Caldres am Nonsberge, welsch Val
de Non, erging sich oft auf dem Gebirge, um seltene und besonders schön
blühende Blumen zu suchen, welche sie treu abzuzeichnen und zu malen
verstand. Dabei verstieg sie sich aber einstmals so in Felsenklippen,
daß sie nicht zurück konnte und in Lebensgefahr geriet. Ein
junger Bursche, der Sohn eines Bauern, wurde ihr Retter; sie dankte ihm
lebhaft und sah ihm tief in die treuherzigen Augen, er gefiel ihr, sie
ihm nicht minder, und rasch schloß sich ein Bündnis der Herzen.
Die Ritterstochter war ohne Arg und glaubte, sie würde ohne Hindernis
den Bauernsohn heiraten dürfen. Daran und an eine Einwilligung ihres
Vaters war gar nicht zu denken. Der Ritter zürnte auf das heftigste,
als sie ihm ihre Liebe zu dem Jüngling von nichtadeliger Herkunft
gestand, und da sie fest dabeiblieb, so sperrte der Vater sie in ein getäfeltes
Turmgemach hoch oben unterm Dach, das sie lebend nicht mehr verließ.
Sie brachte ihre Zeit damit hin, daß sie alle Wände ihres Kerkerzimmers
ganz zierlich mit Blumen bemalte, doch nach Jahr und Tag erlag sie ihrem
Liebesgram, man fand sie in ihrem Gefängnis, und es war anzusehen,
als ruhe eine Selige auf einem Bette voll Blumen. Auch später hat
man sie am Tage darin als Gespenst erblickt, sie auch seufzen gehört
und nachts durch das kleine Fensterlein des Gemaches Lichtschimmer wahrgenommen,
in welches seit ihrem Tode keine lebende Seele kam. Der harte Vater ist
nie wieder fröhlich geworden und bald auch zu seinen Vätern
heimgegangen. Wenn ein Wanderer recht viel Vertrauen denen einflößt,
die jetzt noch den erhaltenen Teil der Burg bewohnen, kann es kommen,
daß man ihn die hohen Stiegen emporführt, ihm hoch unter dem
Dach die kleine, blumenbemalte Kammer zeigt und auf eine entblätterte
Rose, in deren Herz ein Wurm frißt, aufmerksam macht. Das war die
letzte Blume, die sie sterbenskrank noch malte - sie selbst nannte man
die Rose von Caldres.
Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben
von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 395.