Der Riese vom St.-Leonharder-See

Vor vielen, vielen Jahren, zur Zeit, als an Stelle des St. Leonharder-Sees, am Fuße des Oswaldiberges bei Villach, noch ein schönes Dörflein stand, hauste in der dortigen Gegend ein junger Riese. Er besaß wie alle seinesgleichen eine ungewöhnliche Körperkraft und war auch schön von Gestalt und Antlitz, außerdem sehr reich. Doch mit allem Glück ist jedem eine Sorge zugelegt worden; eine solche lastete auch auf dem Gemüt des Riesen. Da er nämlich von ungeheurer Körpergröße war, fand er weit und breit im Umkreise kein Weib, das ihm annähernd ebenbürtig gewesen wäre und als Braut für ihn getaugt hätte. Dieser Gedanke bereitete ihm viele schlaflose Nächte.

Nun lebte aber in jener Gegend zur selbigen Zeit ein Zwerg. Dieser brachte den größten Teil des Tages in einer Waldhöhle schlafend zu und ward daher selten von den Leuten gesehen. Er besaß die Gabe der Hellseherei und dazu noch manche übernatürliche Eigenschaften, die nicht immer zum Besten der Menschen ausschlugen. Von ihm hatte der Riese gehört und wünschte sehnlich, ihn zu finden. Ein günstiger Zufall wollte es, daß sie einander eines Tages im Walde begegneten. Der Riese hob den Kleinen zu sich empor auf einen Felsen und bat ihn um Rat in seiner Angelegenheit. Das Männlein hörte schmunzelnd zu und gab ihm dann eine wilde Rose mit den Worten: „Mit dieser Rose fahr’ immerzu, wohin du willst, durch den Wald bis zu einem großen Gute. Dort wirst du vielleicht finden, worauf dein Wunsch gerichtet ist. Die Bäuerin dort wird aber von einer Brautwerbung nichts wissen wollen; du wirst daher ihre Tochter entführen müssen. Hast du sie glücklich zu Hause, so warte, bis sie in einen tiefen Schlaf fällt, dann lege ihr die Rose auf den schneeigen Busen. Ist sie das rechte Weib für dich, so wird die Rose Rose bleiben, sonst aber nicht.Nach diesen Worten war der Zwerg verschwunden.

Der Riese befolgte, was der Zwerg ihn geheißen. Mit einem glänzenden Gespanne langte er nach langer Irrfahrt vor einem Bauernhofe an. Ein riesenhaftes Mädchen war gerade damit beschäftigt, Wäsche zum Trocknen auf den sonnigen Rasen zu spreiten. Als der Riese dieses Weibes ansichtig wurde, ergriff ihn eine mächtige Sehnsucht. Er stieg zum Mädchen hinauf und begrüßte es. Dieses wiederum hieß ihn herzlich willkommen, als es sein glänzendes Gefährt auf der Straße unten gewahr wurde. Da kam auch schon keifend und scheltend die Mutter aus dem Hause und wollte den Riesen davonjagen. Die Tochter aber bat, nur das schöne Gespann des fremden Mannes näher betrachten zu dürfen, was die Mutter, die nichts Arges ahnte, ihr nicht versagte. Die jungen Leute gingen hinab. Als sie beim Gespanne angelangt waren, nahm der Riese das Mädchen in seine starken Arme, hob es auf den Wagen und trieb die Pferde zum Laufen an. Die Jungfrau sträubte sich nicht, denn schon lange hatte sie sich einen so stattlichen Freier gewünscht.

Sie kamen glücklich in des Riesen Behausung, wo die Maid, von der langen Fahrt ermüdet, zu schlafen begehrte. Das war ihm gerade recht. Während sie in tiefem Schlummer lag, legte ihr der Riese, wie ihm geheißen, die Rose auf den mächtigen Busen. Voll Ungeduld harrte er des kommenden Morgens, um wieder die Kammer seiner künftigen Braut betreten zu können. Und siehe, als sie erwachte, brannten anstatt der Rose Brennesseln auf ihrer Brust. Nun Hub der Riese ein unermeßliches Weheklagen an und konnte sich doch nicht entschließen, das stattliche Weib, das er schon liebgewonnen hatte, wieder fortzuschicken; so wurde trotzdem Hochzeit gehalten.

Da jedoch der Riese auf solche Weise wider den Rat des weisen Zwerges handelte, entsprang seiner Ehe jenes unselige Geschlecht, welches den Untergang des Dörfleins herbeiführte. Heute befindet sich an dessen Stelle ein See, der noch jetzt von den Leuten nur mit Furcht und Scheu befahren wird.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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