Ritter Bibernell

Einst lebte auf Schloß Stein bei Oberdrauburg ein mächtiger, aber seiner Grausamkeit und Ungerechtigkeit wegen verhaßter Ritter mit Namen Bibernell. Alle Ortschaften zwischen Greifenburg und Oberdrauburg waren ihm Untertan, und er übte sein Herrenrecht so strenge, daß kein Untergebener Eigenbesitz haben durfte.

Ein Bauer in Stein grub einst auf seiner Wiese einen jungen Obstbaum aus und verpflanzte ihn in seinen Garten. Als Bibernell dies erfuhr, ließ er den Bauer alsogleich auf das Schloß entbieten und fuhr ihn barsch an, warum er dies getan habe. Der schlaue Bauer entgegnete: „Ich habe den Baum von einem schlechten auf besseren Grund verpflanzt. Mir gehört der Grund ohnedies nicht, da ich Guer Gnaden untertäniger Knecht bin.“ Auf diese Antwort nicht gefaßt, lächelte der Ritter und klopfte mit sichtlicher Zufriedenheit dem schlauen Bauer gnädig auf die Achsel.

Sobald ein Untertan ins Schloß gehen mußte, nahm er Abschied von den Seinen, als gelte es auf Nimmerwiedersehen, was auch häufig zutraf; denn der heute noch vom dunklen Wald sich abhebende Fallturm war oft Zeuge der ärgsten Grausamkeit, die der Ritter durch seine Diener verüben ließ. Seine Reisigen wohnten im Dorfe Rittersdorf, welches vom Gröfflhofe durch einen Gang mit dem jenseits der Drau gelegenen Schlosse verbunden war. Der Gang führte unterhalb der Drau und mündete in der Schloßkapelle.

Die einzige Tochter des Ritters, ein Vorbild weiblicher Tugend und Anmut, liebte einen Schreiber, der in Greifenburg bedienstet war. Bei dem harten Sinne des Ritters war an eine Vereinigung nicht zu denken, die Liebenden beschlossen daher zu fliehen und im benachbarten Welschlande ihren Bund durch den Priester segnen zu lassen. Da das Mädchen nicht unbemerkt aus dem Schlosse entkommen konnte, verfiel es auf folgende List: Allnächtlich Schlag zwölf Uhr zeigte sich dort ein Geist, an dessen Verkehr die Wache bereits gewöhnt war. In Gestalt und Kleidung dieses Geistes gedachte nun das Burgfräulein zu entfliehen, verspätete sich jedoch, so daß das Gespenst früher kam und von dem sehnsüchtig harrenden Geliebten aufs Pferd gehoben und eiligst entführt wurde. Als der Schreiber zur Dellacher Brücke kam, fiel das Mondlicht hell auf die in seinen Armen ruhende Gestalt und siehe! ein gräßlicher Totenkopf grinste ihm entgegen. Da es eben Mitternacht schlug, löste sich die Gestalt in Nedebel auf und verschwand. Der Schreiber ritt zurück, fand die harrende Geliebte, floh mit ihr ungehindert über die Grenze nach Italien und wurde dort mit ihr getraut.

Als Bibernell die Flucht seiner Tochter erfuhr, raste und tobte er, konnte von den zitternden Wachen jedoch keinen weiteren Bescheid erhalten, als daß in verwichener Nacht der Geist zweimal an ihnen vorübergewandelt sei. Seinem rastlosen Bemühen gelang es endlich, dem Paare auf die Spur zu kommen; er erforschte ihren Aufenthalt. Nachdem dies gelungen, lud er die jungen Gatten zu sich und versprach ihnen volle Verzeihung. Ohne Argwohn kehrten sie zurück.

Zu ihrer Ankunft - es war ein Martinitag - veranstaltete der Ritter ein prunkvolles Fest. Bei dieser Gelegenheit sollte der Burgkaplan den Bund nochmals einsegnen. Als beim darauffolgenden Mahle auf die Gesundheit des Brautpaares getrunken wurde, und dieses Bescheid gab, sank die Braut mit dem Rufe: „Ich bin vergiftet!“ zu Boden, während der getäuschte Schwiegersohn ebenfalls die Wirkung des Giftes verspürte und der Ritter hohnlachend die Verratenen betrachtete. Der Schreiber vermochte diese Schmach nicht zu ertragen; er raffte alle Kraft zusammen, fiel über den Ritter her und durchbohrte ihn mit dem Dolche.

Nach alter Bestimmung sollte der letzte Ritter von Stein in Luggau begraben werden. Es wurde daher Bibernells Leichnam in einem prächtigen Sarge unter zahlreicher Begleitung der nun frei aufatmenden Untertanen über den Gailberg geführt. Als der Zug auf der Höhe anlangte, hörte mau ein lautes Kollern im Sarge, und als man ihn öffnete, fand man ihn leer. Dies ist die Sage vom letzten Ritter auf Stein.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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