Das Neusonntagskind

1. Ein junger Bauernbursche von Rennweg im Katschtale war an einem „neuen Sonntag“, das ist ein solcher, der auf den Ersten des fällt, geboren und hatte daher immer und immer mit den Geistern zu schaffen. Teils begegnete er den kopflosen Wesen auf offener Straße, teils im Bereiche des Friedhofes und der Kirche, ja selbst daheim in seiner Kammer war er vor ihnen nicht sicher. Einmal ging er von Rennweg nach dem benachbarten St. Georgen. Es war vor Mitternacht und der Mond schaute freundlich auf die stille Erde hernieder. Als der Bursche am Friedhof von St. Georgen vorbeiging, gewahrte er darin einen Leichenzug. Die Gestalten schienen in tiefe Andacht versunken, sie waren alle ohne Kopf wie der Priester, der in ihrer Mitte stand. Lange stierte er in bangem Schweigen hinüber. Endlich schlug es zwölf Uhr. Langsam tönte es ins Weite, und geraume Zeit nach dem letzten Stundenschlage surrte es noch in der Luft, dann ward es still; die Nachtwandler waren verschwunden.

 

2. Ein andermal - es war mitten im Winter - ging er auf offenem Felde nach St. Peter. Wie er so dahinschlenderte, bemerkte er einen Soldaten, der regungslos ohne Kopf dastand und ihm den Weg versperrte. Der Bursche umging den Geist und lenkte seine Schritte dem nahen Dorfe St. Peter zu. Schon bog er um die Ecke der Kirchhofmauer und betrat bald danach durch die Tür den Gottesacker, um über ihn leichter und ohne Umweg ans Ziel zu gelangen. Er ging schnurstracks der Ausgangstür zu, doch was war das? Er konnte sie trotz aufmerksamen Suchens nicht finden. Da schlug es elf. In der Kirche wurde es lebendig, es knarrte das Schloß, und aus dem Gotteshause bewegte sich ein Zug kopfloser Gestalten und umwandelte langsam den Friedhof. Zwei jüngst verstorbene Bauern, die der Tod nacheinander geholt hatte, beschlossen den Zug. Fürchterlich langsam flossen dem Zuschauer die Minuten dahin; aber als es zwölf Uhr schlug, da fiel es ihm wie ein Stein vom Herzen, die Nachtwandler verschwanden, er fand den Ausgang und ging eilends ins Dorf.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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