Das Mal des Toten

Ein Bursche aus dem mittleren Rosental wanderte einst nachts zu seinem Mädchen und schlug den kürzesten Weg über den Friedhof ein. Da stieß er plötzlich im Dunkel an jemand an und ebenso plötzlich saß ihm eine derbe Maulschelle auf der rechten Wange. Da er weder jemand sah noch hörte und beim schwachen Sternenschimmer vor sich ein offenes Grab bemerkte, gruselte es ihm, und er enteilte dem unheimlichen Orte. Als er bei dem Mädchen angekommen war, welches mit den Mägden noch am Spinnrad saß, entsetzte es sich nicht wenig über sein Aussehen, denn die rechte Wange war fast ganz schwarz. Auf die vielen Fragen der Mädchen erzählte der Bursche den ganzen Hergang. Ein alter Mann, der schweigend auf der Ofenbank saß, riet ihm nun, einige Birkenreiser abzubrechen, auf den Friedhof zurückzukehren, und sie über das offene Grab zu legen; der Tote könne dann nicht hinein und werde gerne das Brandmal entfernen. Und so geschah es. Als die Zeit da war, daß der Tote wieder in die Grube steigen wollte, forderte er den Burschen auf, die Reiser wegzunehmen. Dieser verlangte dagegen zuerst die Entfernung des schwarzen Mals von der Wange und erhielt plötzlich auf dieselbe Stelle einen Schlag. Der Verstorbene erklärte, das Seine getan zu haben und forderte den Burschen auf, ein andermal mit Singen oder Pfeifen seine Anwesenheit zu verraten, damit die Toten auszuweichen wüßten. Nun nahm der Bursche die Reiser weg, das Grab schloß sich. Als er wieder zu den Seinen kam, war auch nicht eine Spur von dem schwarzen Fleck auf seiner Wange zu sehen.

Eine ähnliche Überlieferung ist im oberen Glantal im Schwange.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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