Das Lied vor dem Lindentanz

Es war an einem schönen Sommersonntage, als Burschen und Mädchen in fröhlichster Stimmung in einem langen Zuge, voraus die Musikanten mit ihrer Blechmusik, die Burschen mit Wein, muntere Lieder singend, der Linde zueilten, um dem im Gailtal üblichen Lindentanz beizuwohnen. Die Dorfmusikanten spielten ihre besten Stückchen auf, nach welchen getanzt wurde, daß es eine Lust war zuzuschauen. Einer war unter den Bauernburschen, der von allen unbestritten als der Schönste und Sauberste galt. Mit ihm zu tanzen war herrlich, ja man konnte sich mit ihm zu Tode tanzen. Welche Bedeutung in diesen Worten liegt, denkt wohl niemand. Doch schrecklich ist es, wenn sie sich bewahrheiten. Das geschah an einem der fröhlichen Festtage. Die Mädchen drehten sich mit diesem Unhold im Kreise, und zwar lange. Sie tanzten sich zu Tode. Kommendes Jahr war wieder eine so auffällige Erscheinung mitten unter dem jubelnden Volke, wieder mußten viele Mädchen ihr Leben opfern und schrecklich war das Unglück. Verzagt und mißgestimmt über derlei Vorkommnisse, rief man den Pfarrer zu Rate, ob man wegen dieses böswilligen Burschen, der gerade aus der Hölle zu kommen schien, den Lindentanz aufgeben sollte, der die Freude für jung und alt war und viele Wochen vor- und nachher zu plaudern gab. Auf den Rat des Pfarrers mußte vor jedem Lindentanz unbedingt ein heiliges Lied mit Andacht gesungen werden, um vor solchem Spuk bewahrt zu bleiben.Wohl find es schon viele, viele Jahre her, daß solches geschehen, aber nie werden diese beiden Lindentänze in Vergessenheit kommen und heutzutage noch wird das heilige Lied vor jedem Lindentanz gesungen.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
© digitaler Reprint: www.SAGEN.at