Der krumme Reißecker

Stolz und trotzig ragt das Reißeck in der gleichnamigen Gebirgsgruppe der Hohen Tauern empor und gewährt seinem Besteiger eine lohnende Fernsicht. Schäumende Gebirgsbäche, wie der Göß- und Nadelbach, haben hier ihre Quellen und brausen in selbstgeschaffenen wilden Schluchten zu Tal. Auch zwei Seen zieren die kahle Alm am Fuße des Berges, der große und kleine Reißecksee. Nicht weit davon erhebt sich die einfache, aus Steinplatten zusammengefügte Almhütte, die nur im Sommer von einem Almhirten bewohnt ist. Es ist wohl schon lange her, seit sich hier folgende Begebenheit abgespielt hat:

In früheren Zeiten weidete auf dieser Alm viel Vieh und trotz der vielen Gefahren geschahen doch wenig Unfälle, was wohl hauptsächlich der Umsicht des Hirten zuzuschreiben war. Unter den Rindern, die da jährlich aufgetrieben wurden, erregten eines Sommers zwei „schwarzrücklate" Ochsen die besondere Aufmerksamkeit des Hirten. Sie gehörten dem Bauer Bernhard am Hattenberge. Eines Abends, als der Hirte müd und matt von seinem alltäglich gleichen Almgange zurückkehrte, begegnete ihm vor der Hütte ein kleines, hinkendes Männlein, in grauen Loden gekleidet und auf dem Kopfe einen schwarzen, breitkrempigen Hut mit einer roten Hahnenfeder tragend. Der Hirte erkannte in ihm sofort den „krummen Reißecker", der zur Sippschaft der zwölf Berggeister gehörte. Diese waren gar unholde Gesellen und spielten dem Hirten manchen Schabernack. Diesmal aber war es anders. Treuherzig bat er den Almer, ihm doch über Nacht die beiden großen schwarzrücklaten Ochsen zu leihen und versicherte, sie nach getaner Arbeit unbeschädigt zurückstellen zu wollen. Der Mann gewährte die Bitte und der Berggeist verschwand mit den beiden Zugtieren. Dunkel überschattete allmählich die weite Alm und der Hirte legte sich schlafen. Um Mitternacht erwachte er und hörte den Kobold schreien: „Hia, Kohle, he, Kohle! Großen See Eck zua!“ Dem armen Hirten wurde es bang ums Herz, denn schauerlich widerhallten die Rufe des nächtlichen Ruhestörers in den nahen Felswänden; doch bald schlief er, von Müdigkeit übermannt, wieder ein. Ehe die Sonne hinter der massigen Nockgruppe heraufkam und ihre goldenen Strahlen auf die höchsten Felsspitzen warf, erhob sich der Hirte von seinem Lager. Kalt pfiff ihm der eisige Nordwind ins Gesicht, als er seine Ochsen suchte. Zu seiner Freude fand er sie bald am Ufer des großen Sees liegen, aber müd und abgearbeitet, von Schweiß triefend und ohne daß sie überkauten. Bei diesem üblen Anzeichen sah er sich bewogen, die beiden Tiere zur Hütte zu treiben. Eben war er dabei, als der krumme Reißecker wieder erschien und die warnenden Worte sprach: „Laß die Tiere liegen bis Sonnenaufgang, sonst müssen sie elendig zugrunde gehen! Was auf eines jeden Haupte ist, gehört dem Bauer und was auf dem Schweife ist, gehört dir." Damit verschwand er auf Nimmerwiedersehen. Der Almer beachtete das Verbot nicht, sondern trieb die Ochsen, welche der Frost schüttelte, vor Sonnenaufgang auf. Doch siehe da, pures Gold war an den Hörnern und Schweifen zu sehen. Dies kam zwar an seine bestimmten Herren, aber die armen Tiere gingen jämmerlich zugrunde.

Das war der Spuk eines Alpengeistes, von dem mancher Hirte, so er gut gelaunt ist, noch andre Stücklein zu erzählen weiß.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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