Das Kind im Berge

Unweit der Ortschaft Metnitz erhebt sich eine senkrechte Felswand, an deren Fuße eine höhlenartige Vertiefung zu bemerken ist. Hier - so erzählt der Volksmund - liegt ein Schatz verborgen, den ein häßlicher Zwerg bewacht. Nur ein Sonntagskind kann dazu gelangen, weil es Kraft über die unterirdischen Geister besitzt, und zwar in der Nacht von Pfingstsonntag auf Pfingstmontag.

Eine verarmte Witwe kam einst mit ihrem Kinde in jene Gegend. Sie hatte vom Schatze gehört, und, da sie ein Sonntagskind war, heimlich den Entschluß gefaßt, durch die im Felsen aufgehäuften Reichtümer ihrer Not ein Ende zu bereiten. Am Abend des Pfingstsonntags langte sie bei der Felshöhle an. Zitternd erwartete sie die Mitternachtsstunde, als auf einmal ein fernes Brausen entstand, das näher und näher kam, und ein wunderbares Tor in hellem Lichtscheine vor ihr erstrahlte. Gleich darauf erschien darin die unheimliche Gestalt des Zwerges und winkte ihr, einzutreten. Mit dem Kinde auf dem Arme betrat sie einen lichten Saal, der mit den glänzendsten Kostbarkeiten angefüllt war. Der Zwerg erlaubte ihr, soviel zu nehmen, als sie zu tragen vermochte. Unentschlossen wanderte sie von einer Stelle zur andern; ganz betäubt durch den Anblick der flimmernden Schätze, die einen unaussprechlichen Glanz widerstrahlten, setzte sie das Kind auf den Boden, um beim Einsammeln des Goldes nicht behindert zu sein. Jedoch die Zeit, in welcher der Zauber wirkte, war bald abgelaufen, und der Zwerg mahnte sie, den unterirdischen Raum schleunigst zu verlassend Die Witwe war von dem Reichtum, der sie umgab, wie geblendet; sie raffte in der Gier noch einige Goldstücke zusammen und eilte rasch ins Freie. Kaum war dies geschehen, so schlossen sich die Felsen durch eine unsichtbare Macht. Jetzt erst besann sich die erschrockene Mutter ihres in der Felsenhöhle zurückgelassenen Kindes. Im ersten Anfalle wilder Verzweiflung warf sie das Gold weit von sich, weinte und klagte sich laut ihrer Unvorsichtigkeit an. Als der Tag zu grauen begann, fand sie ihre Fassung wieder, las das weggeworfene Gold auf und verließ tief bekümmert die verhängnisvolle Gegend. Eine Hoffnung hielt die Bedauernswerte noch aufrecht, daß nämlich Gott das unschuldige Kind nicht auf solche Weise werde umkommen lassen. Ihre so teuer erkauften Reichtümer verschenkte sie an Arme und Notleidende. Die feste Zuversicht auf Gottes Allmacht sollte nicht enttäuscht werden; nachdem nämlich das Jahr um war, kehrte die schwergeprüfte Frau zurück und fand das Kind im besten Wohlsein mit Goldstücken spielend an derselben Stelle, wo sie es ein Jahr zuvor zurückgelassen hatte. Sie riß es an ihre Brust, eilte aus der unheimlichen Höhle hinaus, küßte es und weinte Freudentränen. Überglücklich dachte sie nicht mehr an Geld und Reichtum, sondern dankte Gott für das wiedergefundene Kind und lebte von ihrer Hände Arbeit bei kargem Lohne zufrieden bis an ihr seliges Ende.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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