Die Jungfrau von Lantschnigg

Vor langer Zeit lebte auf dem Berge Lantschnigg ein alter Mann, der mit Hilfe einer Wünschelrute Gold gefunden hatte. Er ließ einen breiten Stollen in den Berg hineinschlagen und gewann so viel Gold, daß er bald Besitzer des reichsten Goldbergwerkes war. Damit nicht zufrieden, ließ er sich auf der Höhe ein herrliches Schloß bauen und bezog es mit seiner lieblichen Tochter. Mit dem Reichtum nahm auch sein Stolz und Hochmut zu, so daß er bald allen Bewohnern verhaßt war; nur seine schöne Tochter ward wegen ihrer Freundlichkeit und Leutseligkeit von ihnen geliebt. Sie durfte aber, wenn der Vater zu Hause war, das Schloß nicht verlassen. Viele Freier stellten sich dort ein, aber jeder wurde von dem Schloßherrn hochmütig abgewiesen. Den Winter verbrachte er in einem südlichen Lande und kehrte erst in der wärmeren Jahreszeit zurück, um wieder Gold zu graben.

Da sah ihm einmal ein stattlicher Jüngling, der kurz vorher von dem stolzen Vater abgewiesen worden war, im Walde zu, wie er mit der Wünschelrute nach Gold suchte. Schnell ging er nach Hause, holte eine solche Rute und eilte auf den Berg, um gleich dem Schloßherrn Gold zu suchen. „Vielleicht finde ich bei dem reichen Prahler Erhörung, wenn ich, mit Schätzen beladen, wieder um die Hand seiner Tochter anhalte“, dachte er und hielt sich nun längerer Zeit im Lantschniggwalde auf. Sobald der Mann das Schloß verließ, schlich er unverzüglich in den Schloßgarten, wo das holde Mädchen, das den stattlichen Jüngling von Herzen liebte, auf ihn wartete. Eines Tages aber überraschte sie der Vater und tötete in der ersten Aufwallung des Zornes den Jüngling vor den Augen seiner Tochter, dann verwünschte er sie selbst, das Bergwerk und das Schloß. Kaum waren seine Worte verhallt, als das Bergwerk verfiel und das Schloß im Berge versank. Nach außen zeigt eine blaue Wand den Eingang ins versunkene Schloß, in welchem die liebliche Jungfrau als Schlange weilen muß, bis einer kommt, sie fangt und ihr den Schlüssel abnimmt, welchen sie um den Hals gebunden trägt. Jedes Kind in der Gegend kannte diese Sage, doch keinem Menschen zeigte sich die Schlange.

Eines Tages kam ein hübscher junger Mann zu diesem Berge und um seinen Weg abzukürzen, stieg er über einen Bretterzaun. Als er jenseits den Fuß zu Boden setzte, vernahm er ein leises Wimmern und zog ihn sofort zurück. Das wiederholte sich einige Male, bis er sich ein Herz faßte, hinübersprang und den Stein aufhob, unter welchem das Gewimmer hervordrang. Da erblickte er eine Schlange, die einen Bund goldener Schlüssel am Halse trug. Der Wanderer ahnte sofort, daß es damit eine besondere Bewandtnis haben müsse, hob das Tier auf und nahm ihm die Schlüssel vom Halse. Dann fragte er, was er tun müsse, um die Verzauberte zu erlösen, worauf diese folgenden Bescheid gab: „Geh morgen zur Kirche und besorge die Vorbereitungen für unsere Hochzeit!“

Am folgenden Tage war die Kirche mit wartenden Menschen gefüllt, der Bräutigam stand am Altare, aber die Braut fehlte. Auf einmal ertönte ein leises Zischen, die Leute traten zur Seite und ließen eine Gasse frei, durch welche sich mit unheimlichem Pfeifen eine Schlange wälzte. Sie kroch hinter den Altar und kam auf der anderen Seite als liebliche Braut hervor. Alles staunte über das Wunder und freute sich, daß das holde Mädchen wieder unter Menschen weilte. Nun wurde mit großer Pracht die Hochzeit gefeiert und das glückliche Paar lebte noch lange; aber von dem Bergwerk, dem Schloß und dem geizigen Manne war keine Spur mehr zu sehen. Heute zeigt man nur mehr eine blaue Wand, wo früher das Schloß gestanden haben soll.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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