Der ewige Schuster

Der ewige Jude oder, wie er im Mölltale auch heißt, „der ewige Schuster" muß es bitter büßen, daß er einstens Christum den Herrn fortwies, als dieser auf seinem Leidensgange das Kreuz an die Wand seines Hauses lehnen wollte. Zur Strafe dafür ist er verurteilt, beständig auf der Erde herumzuwandern. Auf seinen Weltfahrten ist der ewige Jude mehrmals nach Kärnten gekommen und hat sich da an verschiedenen Orten sehen lassen.

Als er vor vielen Jahren zu Flattach im Mölltale erschien, nahm er bei einem dortigen Bauer Herberge. Des Abends, nachdem die Leute bereits schlafen gegangen waren, rückte er den Tisch in die Mitte der Stube und umwanderte ihn die ganze Nacht. Bei seinem Weggange sagte er zum Bauer, zweimal sei er jetzt schon dagewesen, wenn er zum dritten Male wiederkomme, werde das Dorf verschwunden sein. Wenn die zwei Moserhäuser am Flattachberge dreimal abgebrannt sein werden, wird der See, welcher oberhalb des Dorfes im Berge sich befindet, ausbrechen und Dorf und Bewohner vernichten. Es wird gerade eine Hochzeit sein und alle Leute werden sich in der Kirche versammelt haben.

Man glaubt allgemein, daß die Zeit nicht mehr ferne sei, in der sich die Weissagung erfüllen werde. Schon sind mehrere Ereignisse eingetreten, welche der ewige Jude als Vorzeichen des kommenden Endes bezeichnet hat. Die Moserhäuser sind bereits zweimal vom Feuer heimgesucht worden; am Fuße des Berges, dessen Inneres den verhängnisvollen See bergen soll, ist eine Quelle zutage getreten und der Boden oberhalb der genannten Gebäude verwandelt sich mehr und mehr in ein „Moos".

Ein andermal ist der „ewige Schuster" nach Döllach im Mölltale gekommen. Die Leute kannten ihn nicht gleich, als er im dortigen Wirtshause „zugekehrt" war. Er hatte ein gar seltsames Wesen. Als wenn er Quecksilber im Leibe hätte, ging er in der Stube ohne zu sprechen auf und nieder und nahm auch da nicht einmal Platz, als ihm die Wirtin sein Essen auf den Tisch gestellt hatte. Seine Rechnung bezahlte er mit sieben nagelneuen Münzen, die niemand kannte. Während er in der Stube weilte, waren die Hennen und der Hahn hereingekommen und hatten ein lautes Gegacker erhoben. „Wißt ihr wohl", fragte der Alte, „was der Hahn mit den Hennen gesprochen hat?" - „Jetzt gehen wir hinunter", sagte er, „zur Weizenharfe, fressen uns dort an und dann legen wir uns schlafen." Die Leute sperrten den Mund auf, als sie dies hörten, und eilten den Hennen nach, welche inzwischen die Stube wieder verlassen hatten. Sie fanden es wirklich so, wie der Fremde gesagt. „Das ist der ewige Schuster", hieß es jetzt, „der versteht die Sprache der Vögel, gehen wir wieder zurück, vielleicht erfahren wir noch mehr von ihm." Wie sie aber wieder in die Stube traten, fanden sie keine Spur vom Alten mehr, und niemand wußte anzugeben, wie und wohin er verschwunden.

Von Döllach weg war er damals nach Heiligenblut gewandert. Es war das zweitemal, daß er diesen Ort besuchte. Als er zuerst dort gewesen, war die ganze Gegend nichts als eine „Kitzeralm". Damals aber hatten sich schon Ansiedlungen erhoben und Heiligenblut selbst war ein beträchtliches Dorf. Wenn er zum dritten Male wiederkomme, soll er zu den Leuten gesagt haben, werde Heiligenblut nichts als ein „Sandbüchel" sein. -

Wie die Leute neugierig um ihn standen, sah er eine Maus am Boden laufen. „Diese hat ihr Loch am Grabe einer Kindbetterin", sagte der Alte. Alle eilten der Maus nach, um zu schauen, wohin sie schliefe. Sie verkroch sich richtig am Friedhofe im Grabe einer Person, welche während des Kindbettes gestorben, der „ewige Schuster" aber war inzwischen unvermerkt verschwunden.

Steinfeld im oberen Drautale war nicht immer so klein als es heute ist. Von der Stelle, wo das jetzige Dorf steht, bis hinunter ins Tal, wo die Wasser der Drau fließen, hatte sich ehedem eine mächtige Stadt ausgedehnt. Es ist schon lange her und die Menschen sind damals noch Heiden gewesen. Aber wer ein Sonntagskind ist, der kann wohl manchmal noch etwas von ihr finden oder die Glocken der verschwundenen Stadt hören. Der „ewige Schuster" aber hat sie noch gesehen, wie er das erstemal durch das Drautal kam. „In hundert Jahren Wiese und Wasser", soll er damals gesagt haben. Und so ist es auch gekommen. Die Stadt verschwand, es blieb von ihr nur das Dorf Steinfeld übrig, Unten im Tale aber ist alles Wiese und Wasser.

Villach ist zwar eine alte Stadt im Lande. Der „ewige Schuster" aber war in jener Gegend, wo jetzt die Stadt liegt, schon zu einer Zeit, als noch keines Menschen Fuß sie betrat. Wie er das zweitemal wiederkam, fand er eine Stadt, und erscheint er zum dritten Male, werden Stadt und Menschen verschwunden sein.

Alte Leute im Lavanttale erzählen gerne von ihm. An verschiedenen Orten soll er sich dort gezeigt haben. Er kehrte nirgends ein, sondern wanderte in einem fort bei Tag und Nacht herum. In St. Andrä hat der fürstbischöfliche Tafeldecker mit ihm gesprochen, als er einmal durch diesen Ort wanderte.

Quelle: Georg Graber, Sagen aus Kärnten, Graz 1941.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Harald Hartmann, Februar 2006.
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