DER RIESE GRIMM ALS DRACHENTÖTER

Zur Zeit, als es in Tirol noch Riesen und Zwerge gab, hauste in den Etschsümpfen nahe bei Pfatten unterhalb Bozens ein äußerst wilder und gefräßiger Drache, der die ganze Gegend weitum in Schrecken versetzte und allmählich in eine Wüste verwandelt hätte, wäre nicht ein Retter erschienen. Denn vor dem Pesthauch des giftigen Kunters ging aller Pflanzenwuchs zugrunde, selbst die stärksten Bäume nicht ausgenommen. Die Pfattener hatten alle Mittel in Anwendung gebracht, um den greulichen Wurm zu töten oder wenigstens zu verscheuchen; ja sie waren selber wohl bewaffnet dagegen ausgerückt, allein es wollte nichts helfen. In dieser Not berieten sich die Ältesten der Gemeinde, was da wohl noch zu tun wäre, oder ob sie samt und sonders auswandern und ihr schönes Pfatten verlassen müßten.

Da fiel ihnen ein, daß auf dem Joch Grimm ein großmächtiger Riese wohne; den wollten sie um Hilfe anflehen. Sie schickten also Abgesandte mit guten Geschenken hinauf, welche den Riesen auch richtig antrafen. Zitternd vor Furcht, wagten sie es kaum, sich ihm zu nähern und ihre Bitte vorzutragen. Der Riese empfing sie über Erwarten gnädig, denn er liebte solche Abenteuer, und versprach den Abgesandten, es mit dem Drachen aufzunehmen, wenn ihm die Gemeinde Pfatten das getötete Tier überlassen wolle. Dazu erklärten sich die Abgesandten im Namen des gesamten Dorfes herzlich gern bereit.

Der Riese knetete nun aus Pech und Sägemehl einen Brei, lockte den Drachen aus seinem Versteck und gab ihm das Ding zum Fraße. Das Tier fraß wirklich den Brei und wurde davon faul und ungeschickt, also daß es der Riese ohne Mühe totschlug. So waren die Leute von Pfatten von dem entsetzlichen Wurme befreit. Was der Riese mit dem toten Drachen angefangen hat, weiß das Volk nicht zu sagen.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 485