DER JOCHERER WILDE

Auf dem Zischgl und beim Hagner in Welschnofen sollen Gräber aus den Heidenzeiten gefunden worden sein. Die Totengerippe, die viel größer waren, als solche gewöhnlicher Menschen, zerfielen, als man sie angriff, zu Staub, so alt waren sie.

Das Riesengeschlecht, von dem sie herrührten, die Wilden Männer oder die Wilden Heiden genannt, ist erst unlängst ausgestorben. Diese ungeschlachten Männer trieben sich fast immer hoch oben unter den Felswänden des Rosengartens, der Rotwand, des Reiterjoches, am Zanggen und hinüber bis zum Schwarzhorn und Jochgrimm umher. Früher kehrten sie auch manchmal beim Bewaller und Gallmetzer in Eggen ein.

Einer dieser Wilden, insgemein der Jocherer Wilde oder der Hagemann genannt, steht noch in besonderer Erinnerung der Welschnofner; er ging beständig auf dem Tierser Weg von Gletsch bis zum Hartmannsbrunnen hin und her, begleitet von zwei schwarzen Hunden. Dann und wann sah man ihn auch auf dem Zischgl, auf Gstalt, beim Jocher oder beim Hagner, manchmal schlenderte er auch weiter herwärts gegen Caldrun. Er trug einen langen Bart, war auf und auf behaart und so groß und stark, daß er Bäume ausriß und als Stock gebrauchte. Gewöhnlich aber führte er eine mächtig lange Eisenstange in der Hand. In der Dreikönigsnacht hörte man ihn da oben regelmäßig. Dann ging er auf die Jagd aus, und wehe dem, der ihm unterkam! Durch die Wälder weithin hörte man das Gebell seiner beiden Hunde.

Am besten wissen die Bewohner des Jocherhofes Kunde von dem Wilden, denn zu diesem Hofe kam er nicht ungern herab. Dann redete er, wenn er nicht gerade übel gelaunt war, wohl hie und da die Leute an und sagte: "Habt's a Heu?" Wenn sie antworteten: "Wir haben wenig", erwiderte er: "Kemmt's aus damit." Sagten sie aber: "ja, Heu genug, Heu genug!" dann rief er: "Braucht's aa!"

Bärgrimmig wurde er, wenn er irgendwo abends nach dem Betläuten noch die Haustür offen sah. Beim Jocher war dies einst der Fall. Da steckte er seinen Kopf zum Fenster hinein. denn in ein Haus ging er nie. und rief:

"Hobt's koa Tür,
stöckt an Stroahhalm für,
isch aa a Tür!"

Dann stieg er wieder auf die Höhe, und man hörte noch lange seine Hunde waldein, waldaus bellen.

Ein Bauer aus Tiers hörte einmal die Hunde bellen und "anterte" sie nach. Aus Leibeskräften schrie er auch: hu! hu! Alsbald war der Wilde zur Stelle und zerriß den kecken Bauern.

Wenn er zum Jocher herabkam, liefen seine beiden schwarzen Hunde zwei Tage vorher zum Hof herab und um das Haus und bellten, als müßten sie den Besuch ihres Herrn ankünden. Dann mußten die JocherLeute den Tieren eine große Schüssel voll warmer Milch vorsetzen, die sie auch austranken. Einmal kam sodann der Riese und sagte: "Wenn ös in meine Hundlen net a warme Milch göbm hätt, tat i enk allezamm zu Lab und Stab darreißn." Dabei lehnte er seine Eisenstange an die Wand des Hauses, und der ganze Hof krachte und zitterte, als wollte er aus den Fugen gehen, und neigte sich vor der Last auf die andere Seite. Nun gab er den Jocher-Leuten Lehr' und Weisung, daß sie nach Betläuten nie die Haustür offen lassen sollten, und könnten sie die Haustür nimmer zumachen, sollten sie einen Strohhalm querüber vorstecken. So wären sie sicher. Darauf ging er wieder seines Weges.

Quelle: Heyl, Johann Adolf, Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, Brixen 1897, S. 345 f