Der Marksteinrucker.

Am Niger unter dem Rosengarten haben die Tierser und die Welschnovner Jahrzehnte hindurch wegen der Almgrenzen zu streiten gehabt. Sommer für Sommer sind die Hirten und Bauern von der einen und von der andern Seite dort oben zusammengewachsen und haben sich die Köpfe blutig geschlagen. Haben sich gegenseitig zur Ader gelassen, ohne dass es auch nur einem Bader eingefallen wäre, sie wegen Kurpfuscherei vor Gericht zu ziehen. Im Gegenteil - die Dokter der Medizin haben fast die gleiche Freude an diesen Unterhaltungen der Bauern gehabt wie die Dokter der Rechte. Vor Gericht gezogen haben sich die Bauern schon selber und die Advokaten in Bozen hatten über Hals und Kopf zu tun.

Endlich, nachdem die Tierser und Welschnovner einander so manches zuleide getan hatten, hat ein altes Manndl aus Fassa Frieden gestiftet und die Marksteine gesetzt. Alle waren einverstanden, die Hübern und Drübern, bis auf einen einzigen Welschnovner Bauern. Dem hat die Mark noch immer nicht recht getaugt. Gesagt hat er zwar nichts - es hätte ihm auch nicht viel geholfen - aber in einer finstern Regennacht hat er einen Spaziergang auf den Niger gemacht und die Grenz ein wenig verschoben - natürlich zu seinem Nutzen.

Wie dann der Bauer verstorben ist, war am Niger schon wieder keine Ruhe und der Teufel los. Man hat von einem Gespenst zu erzählen angefangen, das sich dort oben sehen lasse und jämmerlich schreie und seufze.

Der Ladritscher Müller von Welschnoven muss einmal spät in der Nacht über den Niger. Wie er oben auf der Höhe grad einen Raster macht und ein Maul voll Kranewiter aus seiner Flasche glucksen lässt, kommt richtig der Irrwisch daher und jammert mit seiner hohlen Geisterstimme:

"Wo soll ich ihn hintun, den Stein? Wo hintun, hintun? Wo - wo - wo - hin?"

"Da trink einmal, du Goggezer (Stotterer)", sagt der Müller gutmütig und hält ihm die Schnapsflasche entgegen.

Der Geist aber fängt neuerdings zu stöhnen an wie eine Schleiereule:

"Wo soll ich ihn hintun, den Stein? Wohin? Wohin? Wohin?"

Dass jemand seinen Kranewiter, den er selbst gebrannt, zurückweisen könnte, wie es dieser Jammergeist da tat, das hätte sich der Müller bis dahin nicht einmal im Traume einfallen lassen. Das machte ihn fuchtig, den Ladritscher. Und als der Geist noch immer sein "Wohin? Wohin? Wohin?" über die Almen stöhnte, fuhr ihn der Müller recht ungnädig an:

"Du bist a fader Säckel mit deinem ,Wohin? ´ Von mir aus, tust ihn hin, wo du ihn hergenommen hast, aber mich lasst jetzt in Ruh."

Da humpelte der Geist eiligst davon und hat sich nie mehr sehen lassen. Der Rat, den Stein auf den alten Platz zu setzen, muss ihn erlöst haben.

Der Ladritscher Müller aber ist seit der Zeit an schlecht auf Geister und Gespenster zu sprechen. Das sind nach seiner Meinung Wesen, die keinen Leib, aber auch keinen Verstand haben, denn sonst hätte der Jammerer den Kranewiter zum mindesten gekostet.

Quelle: Laurins Rosengarten, Sagen aus den Dolomiten, Franz S. Weber, Bozen 1914, S. 80-82.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bernd Wagener, März 2005.