Die Platte am Seiterberg

Am Jaufentaler Seiterberg hüteten zwei Hirten ihr Vieh. Das ist für junge Buben zumeist ein langweiliges Geschäft und sie suchten etwas, um sich die Zeit totzuschlagen. Deshalb machte einer den Vorschlag, ein neues Spiel auszuprobieren, das er irgendwo einmal gesehen hatte, bei welchem sich einer scherzhalber aufhängen lassen müßte. Der Anblick des "spitzen Maules", das der Gehenkte bekommt, sei so ergötzlich, daß er alle Strapazen des Spieles aufwiege.

Das war einmal etwas Neues, meinte der andere Hirte und bot sich als Versuchsobjekt an. "Wenn i aber a spitzigs Maul mach', muesche mi loslassn" trug er seinem Kollegen auf, als ihm derselbe die aus einer Geißelschnur improvisierte Schlinge um den Hals legte. - Das wäre einmal sicher, versicherte ihm der "Scharfrichter" und zog los.

Im selben Momente brach aber ein Bär aus dem Dickicht und stürzte sich auf das Weidevieh, so daß der Henker von seinem Opfer ablassen mußte und dadurch den kritischen Augenblick verpaßte, wie derselbe sein "spitziges Maul" bekam. Als die Bärengefahr abgewendet war, hing der andere bereits leblos an der Schnur.

Das war nun freilich ein unverzeihlicher Unfug, meinten die herbeigeeilten Nachbarn. Da aber die Sache nicht mehr zu ändern war, legten sie den Toten auf eine Bahre und trugen ihn zu Tale. Bis zum "Kreuz" ging alles gut, dort angekommen, waren jedoch die Träger nicht mehr imstande, noch einen Schritt weiter zu tun. Man stellte den toten Buben nieder und versuchte ohne ihn weiterzugehen. Das war ohne Schwierigkeiten möglich, kaum nahm man aber wieder die Bahre auf, stellte sich ihnen eine unsichtbare Mauer in den Weg. Als nun alle Versuche fehl schlugen mit der Leiche zu Tale zu kommen, lief einer ins Pfarrhaus, unterrichtete den Geistlichen vom Unglücksfalle und dem Spuk am "Kreuze", worauf der Vertreter Gottes sich sofort auf den Weg machte, um durch Gebet und Segnungen die Weiterschaffung der Leiche zum Ortsfriedhof und die Bannung des Spukes zu erwirken. Doch leider waren auch seine Bemühungen erfolglos und es blieb nichts anderes übrig, als den toten Hirten an jener Stelle der ungeweihten Erde zu übergeben.

Um jedoch seine Leiche vor wilden Tieren zu schützen, beschwerte man seine letzte Ruhestätte mit einer großen Steinplatte, in die als christliches Zeichen ein Kreuz eingemeißelt wurde.

Noch heute zeigt man am Seitenberg jene Steinplatte, die mahnend an jenen sagenhaften Vorfall erinnert.

Quelle: Fink, Hans, Eisacktaler Sagen, Bräuche und Ausdrücke. Schlern-Schrift Nr. 164, Innsbruck 1957, S. 47