Wie ein König versteinert
und eine Königin entführt wurde
Ein Zirkus im Schlossgarten
In diesem Land nun, zu einer Zeit, als sich kein Mensch mehr daran erinnerte,
dass einmal ein König und eine Königin über das Land geherrscht
hatten, wurde ein Zwillingspärchen geboren, ein Junge und ein Mädchen.
Der Junge wurde Joey genannt und das Mädchen Arlana. Sie wohnten
mit ihren Eltern in einem kleinen Häuschen am Rand der Stadt. Die
Mutter war Schneiderin und der Vater ein Hufschmied. So hatten sie ihr
Auskommen und es mangelte ihnen an nichts.
Wenn das Wetter schön war, trieben Joey und Arlana Gänse und
Ziegen, die eigenen und die der Nachbarn, vor die Tore der Stadt. Dort
gab es saftige Wiesen und einen kleinen Teich und dort trafen sie die
anderen Kinder. Gemeinsam tollten sie im Gras herum und im Wasser, zwischen
all den Ziegen und Gänsen und waren fröhlich und ausgelassen.
Und wenn sie genug davon hatten, legten sie sich ins Gras und sahen den
Wolken zu. Es war ein schönes Leben, das die Kinder führten
und sie waren glücklich und zufrieden.
Doch manchmal, wenn sie zusahen, wie die königlichen Ritter durch
das Stadttor hinaus ritten, wurde Joey das Herz schwer vor Sehnsucht.
Er wünschte sich nichts so sehr als selbst einmal ein Ritter zu werden
und er glaubte fest daran. Aber die anderen lachten ihn aus, denn sie
wussten genau, dass der Sohn eines Hufschmieds und einer Schneiderin niemals
ein Ritter werden konnte. Auch Arlana hatte ihre Träume, doch sie
verriet sie nicht, nicht einmal ihrer besten Freundin.
So vergingen die Tage, einer nach dem anderen, die Geschwister wuchsen
heran und plötzlich war der Tag gekommen, da sie in die Schule gehen
sollten.
In dieser Stadt war es so, dass die Schule in den Schlossgarten gebaut
worden war. Es war ein schönes Gebäude, fast selbst ein kleines
Schloss. Joey und Arlana hatten es kaum erwarten können und am ersten
Schultag gingen sie voll Freude hinein. Wenig blieb von der Freude, denn
sie mussten lernen den ganzen Tag. So vergingen das erste Jahr und das
zweite. Eines Tages, ein paar Tage vor Ende des dritten Schuljahres und
also kurz vor den Sommerferien, schlug eine Zirkustruppe nahe der Schule
ihr Lager auf. Mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen drängelten
sich die Kinder in jeder Pause an den Fenstern. Wenn die Glocke zum Unterricht
rief, gab es kein Kind, das ruhig auf seinem Platz sitzen konnte. Schließlich
hatten die Lehrerinnen ein Einsehen und schickten die Kinder hinaus. Auch
die Lehrerinnen gingen mit, denn es war lange her, dass ein Zirkus in
die Stadt gekommen war.
Am Nachmittag war es endlich so weit. Das Zelt und alles was dazu gehörte
standen an seinem Platz. Die Artisten waren bereit und die Vorstellung
begann.
Es war wunderbar, die Zuschauer klatschten und lachten. Sie wollten immer
mehr und keinesfalls nach Hause. Doch wie jeder Tag zu Ende geht, musste
auch dies ein Ende haben. Schließlich standen die Leute auf und
gingen nach Hause.
Einzig Joey und Arlana blieben noch sitzen, überzeugt davon, dass
die Vorstellung noch nicht zu Ende wäre. Sie sollten Recht behalten.
Kaum hatte der Letzte das Zelt verlassen, fing die Musik wieder zu spielen
an, ganz leise zuerst, kaum hörbar, dann immer lauter. Die Töne
schwebten durch das Zelt, leicht wie Nebelschleier, feierlich, fröhlich,
traurig, alles zugleich. Der Vorhang öffnete sich für einen
König und seine Königin. Gekleidet in Samt und Seide, geschmückt
mit Gold und Edelstein, standen sie reglos da und keiner sagte ein Wort.
In ihren Augen lag eine Wehmut, die den Kindern das Herz schwer machte
vor Trauer. Als wären sie einer, standen die Zwillinge auf und verneigten
sich. In diesem Augenblick schwebte eine Fee herein, weiß wie Schnee,
rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz. Ihr Gewand war so wunderbar wie der
Himmel in einer wolkenlosen Nacht. In den Händen trug sie ein Kissen
aus blauem Samt und auf dem Kissen stand ein silbernes Kästlein.
Joey und Arlana hielten sich an den Händen. Die Herzen klopften,
die Augen strahlten. Sie standen ganz stumm, ganz erwartungsvoll, denn
dass nun etwas Wunderbares geschehen würde, das war gewiss.
Die Fee trat herbei mit dem Kissen und die Königin öffnete das
Kästlein und nahm zwei Schlüssel heraus. Den einen reichte sie
Joey, den anderen Arlana. Vor Aufregung vergaßen sie sich zu wundern
über diese seltsame Gabe. Hoffnung stand in den Augen der Königin
und ein Drängen in denen des Königs. Mit einem Mal kam ein kalter
Wind auf. Die Kinder fröstelten und steckten die Hände in die
Taschen. Die Fee löste sich auf bei dieser Kälte, wurde mit
jeder Sekunde durchsichtiger und schließlich war sie fort. Und mit
ihr das Kissen und das Kästlein. Die Geschwister verbeugten sich,
diesmal zum Abschied, doch das Königspaar sah es nicht mehr, denn
der Vorhang war längst gefallen.
Der Mond war fast schon wieder untergegangen, als Joey Hand in Hand mit
seiner Schwester, das Zelt verließ. Sie betrachteten ihn lange,
wie da hing am Himmel, in vollem Rund, so nah und doch so fern.
Am nächsten Morgen erzählten sie der Mutter von der Fee und
den Schlüsseln und allem. Einmal sprach Arlana, einmal Joey, meist
aber beide gleichzeitig, so aufgeregt waren sie. Die Mutter schmunzelte
nur und sagte:
"Ach, meine Kinder, ihr habt nur geträumt. Ihr seid schon eingeschlafen,
bevor die Vorstellung zu Ende war. Erinnert ihr euch nicht mehr? Mit dem
Handwagen haben wir euch nach Hause gebracht, denn ihr wolltet nicht aufwachen
um auf euren eigenen Füßen zu laufen. Doch wundert mich nicht,
dass euch von einem Königspaar träumte, denn unter den Gauklern
war ein Mädchen, das schön war wie eine Königin und ein
Junge, der war stark wie ein König. Doch nun vergesst den Traum und
esst euer Frühstück. Es ist höchste Zeit, denn bald fängt
die Schule an."
"Aber" begann Arlana, die nicht wollte, dass die Mutter Recht
hatte. "Woher ist dann der Schlüssel und warum träumte
mein Bruder denselben Traum?"
"Ach Kind" antwortete die Mutter "hör jetzt damit
auf. Es war ein Traum und damit basta. Zwillinge träumen oft dasselbe,
das weißt du doch. Und wer weiß, woher ihr den Schlüssel
habt? Vielleicht hat ihn euch ein Gaukler in die Tasche gesteckt? Am besten
wird es sein, wenn ihr die Schlüssel dem Zirkusdirektor aushändigt,
der wird schon wissen, wo sie fehlen. Lauft jetzt los, dann könnt
ihr das noch vor Schulbeginn erledigten!"
So schnell sie konnten rannten sie los. Vielleicht würde der Zirkusdirektor
ihnen ja glauben. Doch wie groß war ihre Enttäuschung als sie
im Schlossgarten ankamen, denn das bunte Zelt war verschwunden. Es war
fort und mit ihm die Gaukler und alles drum und dran. Nur die Schule stand
da, wie immer am gewohnten Ort und die Glocke rief zum Unterricht.
Quelle: Karin Bühler, Ausstellungsleiterin von "Die Karten von Duun-Ca-Doh" (April/Juni 2004, Berlin), mit Schülern der 3. Grundschulstufe, Emailzusendung im April/Mai 2005