Wie ein König versteinert
und eine Königin entführt wurde
Ein alter Turm im Wald
Es wurde Herbst, es wurde Winter. Eines Tages, mittlerweile war es Frühling
geworden, machten sie mit ihrer Klasse einen Ausflug vor die Mauern der
Stadt. Die Lehrerinnen setzten sich in die Sonne und die Kinder spielten
Verstecken. Auf der Suche nach einem besonders guten Versteck liefen Joey
und Arlana fast bis an den Rand des Waldes. Sie wollten schon umkehren,
denn hier würde sie ganz bestimmt niemand suchen, als sie direkt
über ihren Köpfen ein seltsames Rauschen hörten. Es waren
Raben, die um die Ruine eines alten Wachturms herumflatterten. Eine Minute
standen die beiden, vielleicht waren es auch fünf, ab r dann gab
es kein Halten mehr.
So schnell der Wald es erlaubte, zwängten sie sich durch das Dickicht
e der Bäume und Büsche. Bald gelangten sie, wenn auch zerkratzt
und mit manchem Riss im Hemd, auf die Lichtung, in deren Mitte der Wachturm
stand. Die Raben saßen ruhig auf den Zinnen des Wachturms, dessen
rot gedecktes Dach in der Sonne leuchtete. Das war keinesfalls die Ruine,
die sie zuvor gesehen hatten. Fragend sahen sie sich an. War vielleicht
etwas mit ihren Augen? Hatten sie sich vielleicht verlaufen? Um das herauszufinden,
so einigten sie sich schnell, wäre es das Beste, auf den Turm hinaufzusteigen,
von dort aus konnten sie sehen, wo sie waren. Hand in Hand, wie sie es
früher immer getan hatten, gingen sie langsam auf den Turm zu, Schritt
für Schritt, immer schön langsam, einen nach dem anderen.
Niemals hätten sie es zugegeben, nicht Arlana und Joey schon gar
nicht, dass sie sich fürchteten. Jede Geschichte, die man ihnen jemals
über finstere Räuber, böse Rittern und blutrünstige
Zauberer erzählt hatte, schoss ihnen durch den Kopf. Das Stück
vom Waldrand zur Turmtür hin war eindeutig das längste Stück
Weg, das sie heute zurücklegten. Sie rüttelten an der Tür,
doch die war verschlossen. In stummer Übereinstimmung tasteten sie
nach den Schlüsseln, die sie seit damals an einer Schnur um den Hals
trugen - sei es als Erinnerung an einen schönen Traum, sei es, dass
der Zirkusdirektor eines schönen Tages wiederkommen und danach fragen
würde.
Es Arlanas Schlüssel der passte. Die Tür quietschte ein wenig
und klemmte hie und da, aber mit vereinten Kräften schoben sie die
Tür so weit auf, dass sie hindurchschlüpfen konnten. Dahinter
war es recht duster. Außer einer Wendeltreppe gab es nichts. Hoch
oben aber, da lockte ein leuchtender Lichtfleck. Arlana wurde ein schwindlig,
allein schon vom hinaufsehen, aber Joey nahm sie am Arm und führte
sie. Die Stufen waren breit genug, dass sie bequem nebeneinander hinaufsteigen
konnten.
Etwas außer Puste traten sie am Ende der Treppe durch den niedrigen
Türbogen. Schon wieder diese Raben! Hochgeschreckt durch die unerwarteten
Besucher flatterten sie krächzend den Kindern um die Köpfe.
Die Vögel beruhigten sich alsbald und die Kinder traten an den Rand
des zinnenbewehrten Balkons. Es gruselte sie ein wenig, als sie hinuntersahen,
denn so hoch oben waren sie noch niemals gewesen. Die Stadt schimmerte
in der Ferne wie im Nebel, und es war ihnen als stünden sie irgendwo
an den Grenzen des Reiches. Das Schloss mit seinen Türmen und Fahnen
konnten sie jedenfalls nicht mehr erkennen.
Eine paar Schritte weiter kamen sie an eine weitere Treppe, die sie ebenfalls
hinaufstiegen, ohne nachzudenken, ohne zu fragen. Joey forsch voran, Arlana
mit klopfendem Herzen hinterher.
Ihr Staunen hätte nicht größer sein können, wenn sie plötzlich einem Drachen oder einem Zwerg gegenüber gestanden wären. Zwar gab es hier nichts dergleichen, doch erstaunlich war es allemal. Das Sonnenlicht fiel gleichmäßig durch alle Fensterscheiben die bunt waren und sich auf dem Fußboden spiegelten. Bücher gab es hier ohne Ende in Regalen, die bis an die Decke reichten und vielleicht sogar noch weit darüber hinaus. Dicht an dicht standen die Bücher und eins war schöner als das andere. Bunte Wappen aus Gold und Silber zierten die Rücken aus feinem Leder. Das Regal mit den Märchenbüchern zog sie magisch an. Andächtig traten sie näher und erkannten, dass dort alle Märchen der Welt versammelt waren - die ältesten, die schönsten, die dümmsten, die aufregendsten, die fremdesten, die traurigsten, die lustigsten, die grusligsten und noch vieles mehr. Joey zeigte auf eines und als Arlana nickte nahm er es heraus. Vorsichtig legte er es auf dem Fenstersims ab, denn es war schwer.
"Das ist die Geschichte der Karten von Duun-Ca-Doh" stand in dicken Lettern vorne auf dem Einband. Gleich auf der ersten Seite war eine Fee gemalt, die ein Kissen trug und ein Kästchen und darunter standen die Worte: "Zieh deine Karten und das Abenteuer beginnt. Doch wähle gut, denn wählst du falsch, so wird das eine Reise ohne Wiederkehr"! Alle anderen Seiten aber waren leer, nicht ein einziger Buchstabe war zu sehen. War das alles nur ein Traum? Wie auch immer, das Kästchen stand in echt gut sichtbar in einer Lücke im Bücherregal rechts neben der Tür. Arlana hätte schwören können, dass es noch eine Minute zuvor nicht dort gestanden hatte. Aber alles Grübeln nützte nichts. Joey war schon hingegangen. Er probierte seinen Schlüssel und sie da - er passte. Der Deckel sprang auf und darinnen lagen Spielkarten. Ein kalter Hauch wehte aus dem Inneren des Kästchens, ein Wirbel entstand und trug sechs Karten empor, drei für Arlana, drei für Joey. Dann klappte der Deckel wieder zu und der kalte Hauch fiel zu Boden, klirrend wie Splitter aus Glas.
Die Tür war zwischenzeitlich verschwunden und doch auch wieder nicht,
denn sie war wie ein Spiegel, denn die Kinder sahen sich darin, wie sie
so standen, die seltsamen Karten in der Hand, mit vor Aufregung roten
Wangen. Nichts mehr war wie vorher, denn die Welt die sie kannten war
verschwunden. Und sie wussten mit einem Mal, was zu tun war - als wenn
sie jemals eine Wahl gehabt hätten ... Gleichzeitig machten sie den
ersten Schritt, dann den zweiten und dann gingen sie in den Spiegel hinein,
was sich anfühlte als gingen sie durch dicke Luft und dann waren
sie fort und der Spiegel war nichts weiter als ein Spiegel, nichts weiter
als eine verrottete Tür in einem verrotteten Turm voller alter Bücher,
von allen vergessen.
Quelle: Karin Bühler, Ausstellungsleiterin von "Die Karten von Duun-Ca-Doh" (April/Juni 2004, Berlin), mit Schülern der 3. Grundschulstufe, Emailzusendung im April/Mai 2005