1. Des Hoimanns Gast

Nachdem Dr.Walter Knobel die Stadt Lohr verlassen hatte und mit seinem Wagen in südlicher Richtung die Mainwiesen entlangfuhr, zwang ihn ein dringendes Bedürfnis zum Anhalten. Er stieg aus und stapfte durch die feuchten Wiesen zu einem Baum hin, wo er hoffte, sein Geschäft erledigen zu können. Irritiert wich er aber aus, als er unter dem Baum, vorher nicht sichtbar, eine zweifelhafte Gestalt sitzen sah, einen weiten Hut in das faltige Gesicht gezogen, dazu mit kaum noch vorzeigbarem zerschlissenem Textil und Lederzeug bekleidet. Knobel tat, als hätte er den Fremden nicht gesehen und begab sich zu einer Stelle, wo mitten in der Wiese hohes Gras stand, das nach seinem Dafürhalten sein Vorhaben zu bedecken imstande war. Bevor er die Stelle erreichte, hörte er jedoch, wieder unangenehm berührt, den Ruf des Fremden, er solle einhalten, denn hier werde er wohl nicht sehr weit kommen.Unwirsch ließ Knobel den Fremden verstehen, dass er seines Rates nicht bedürfe, denn das Beobachtetwerden war ihm bei diesem Anlass höchst unangenehm. Der Fremde ließ jedoch nicht ab zu warnen, der Boden sei hier nachgiebig und es seien schon mehrere Kinder nicht mehr herausgekommen. Auch dieser Rat fand jedoch kein Gehör. Ohne sich beirren zu lassen, strebte Knobel dem Mittelpunkt der sonderbaren Stelle zu. In der Tat aber wurde, je weiter er in das hohe Gras vordrang, der Boden unter seinen Füßen feuchter und weicher. Um nicht zusätzlich zu seinem unerledigten Bedürfnis noch nasse Füße zu bekommen oder gar einen Schuh zu verlieren, gab er dann aber doch sein Vorhaben auf und strebte rückwärts, ohne weiteren Drang, hier noch zum Erfolg zu kommen, nur noch mit dem Wunsch, schnell zu seinem Wagen zu gelangen und sich einen geeigneteren Ort zu suchen.

Als er dann aber seinen Weg zurück nahm, wunderte er sich immer mehr, wie weit er sich doch entfernt haben mußte, denn so sehr er auch die Augen anstrengte konnte er weder seinen Wagen, noch die Straße erspähen, von der er gekommen war. Verwirrt blickte er sich um, sah dort aber die Mainauen, hier den Wald und sonst nichts, das geeignet gewesen wäre, ihn vom Wege abkommen zu lassen. Schließlich kam er an einen elenden Weg, zerfurcht von Räderspuren, und ahnte nun wohl, dass sein Schicksal mit ihm einen üblen Streich spielte. So sehr er sich auch die Augen rieb, half es ihm nichts, darauf zu hoffen, dass dies nur ein böser Traum sei. Er setzte sich auf einen Baumstumpf am Wegesrand, sah, dass die Sonne im Begriff war, unterzugehen und er nun, ungeachtet der sonderbaren Umstände, eine Bleibe suchen mußte. So ging er den Weg entlang, der wohl der einzige weit und breit war, und ihn bald in den Wald hineinführte. An mehreren Wegkreuzen und Grenzsteinen kam er vorbei und verunsichert kehrte er bald um, da dieser Weg ihn, wie es schien, nicht an ein Ziel führte und die Nacht heinzubrechen begann. So sehr er sich aber mühte, zu seinem Ausgangsort zu kommen und seine Schritte beschleunigte, schien es ihm, als ob er immer tiefer in den Wald hineinkäme. Schlechter wurde der Weg, Äste ließen ihn stolpern und Spinnweben streiften sein Gesicht. Ärgerlich wischte er sie weg und blieb schließlich stehen, um aufzumerken, ob er nicht irgendwo ein Licht sähe oder aus der Ferne einen Laut hören könne. Und in der Tat schien es, als ob er hinter sich leise Schritte hörte. Mehrmals rief er Hallo und geriet dabei in sichtlich gereizte Stimmung, doch er erhielt keine Antwort. Stattdessen vernahm er neben sich ein leises Knacken, fuhr herum, konnte aber nichts in seiner Nähe entdecken. Weiter ging er des Wegs in der immer finsterer werdenden Nacht und bald hörte er wieder, immer deutlicher, in nur geringem Abstand die Schritte und häufiger vernahm er neben sich, zuweilen auch vor sich, ein Knacken und Rascheln. Schneller wurde sein Schritt, denn Furcht beschlich ihn, dass das Wesen, das ihn, wie es schien, unerkannt begleitete, ihm nicht wohl gesonnen sein könnte. Stunden schon, so schien es ihm, hastete er dahin, immer wieder riß es ihn zu Boden, Gesicht und Hände waren ihm zerschunden von streifenden Ästen, da war ihm, als säße jemand auf seinen Schultern; Grauen befiel ihn, er warf sich in den Schmutz, erhob sich, stürzte wie vom Wahnsinn getrieben weiter und war schließlich am Ende seiner Kräfte, als bereits die ersten grauen Schimmer über den Wipfeln sichtbar wurden. Übelkeit überkam ihn und was ihm bisher vertraut war, Bett und Behausung, Nobelgefährt und die Gesellschaft, der er am Vorabend noch hatte vortragen wollen, sie dünkten ihm jetzt wie Erschei-nungen aus einer anderen Welt. Ein unbequemes Lager hatte er sich indessen bereitet, auf Steinen und Ästen, und als er den Kopf hob, gewahrte er vor sich eine lichte Stelle im Wald, in ihrer Mitte einen stattlichen Grenzstein, auf dem zu seiner grenzenlosen Überraschung der Mann saß, mit dem er am Ausgangspunkt seines sonderbaren Ausflugs die letzten Worte gewechselt hatte.

Woher er des Wegs käme um diese unchristliche Zeit, fragte der Sonderling. Könnte er nicht jetzt in den Federn liegen und seine Zeit in anderen Gefilden verbringen als in dieser Wildnis? Und ein Lachen flog über sein Gesicht, als er im heller werdenden Licht die zerschundene Kleidung und das zerkratzte Gesicht des noblen Doktors betrachtete. Knobel zupfte sich seine Krawatte zurecht und klopfte die Walderde von seinem Anzug, als ob dies noch jemand beachten könnte und sein Referat, das er in Wertheim zu halten gedachte, noch ausstünde. Neugierig betrachtete der Fremde die einstmals teure Kleidung und bemerkte, dass Knobel ein feines Tuch trage, dasselbe ihm aber hier mitnichten zugute käme. Der Angesprochene fuhr den Fremden unwirsch an, er solle sich nicht über ihn lustig machen, schließlich sähe er, in welch mißlichen Situation er sei. Und außerdem wollte er wissen, was hier gespielt würde und wie er hierhergekommen.

Er befände sich hier, antwortete der Fremde lächelnd, im Wald, und auf den zornigen Blick Knobels ergänzte er, an der Grenze der Markungen von Steinfeld und Sendelbach. Welches Schicksal dem Herrn widerführe, wisse er nicht; welches Vorhaben er verfogt, müsse er dann schon vorausschicken.

Als den Diplomingenieur Dr.Walter Knobel, Sachverständiger für Bauwesen und Landschaftsschutz, derzeit gutachterlich tätig beim Oberlandesgericht Bamberg, stellte sich der Befragte vor. Er habe im Auftrage seiner Standesvereinigung einen Vortrag über landschaftsverträgliches Straßenbauwesen in Wertheim zu halten. Sodann überreichte er seinem Gegenüber artig eine Visitenkarte, als ob es sich um einen Geschäftspartner handelte. Der nahm sie ohne große Anteilnahme entgegen, wußte indessen wohl auch nicht viel damit anzufangen, als ob er des Lesens unkundig sei. Er nahm seinen Hut ab, unter dem sich zum Erstaunen Knobels ein abgebrochener Schöpflöffel befand, legte diesen beiseite, steckte die Karte in den Hut und setzte ihn wieder auf. Er sprach, dass die Wege hier schlecht wären und zog seine altertümlichen Stiefel aus. Dabei schüttete er eine große Menge Erde aus und verteilte sie auf dem Boden. Steinfelder Boden, bemerkte er, er sei ein Vermögen wert, wenn man ihn in den Stiefeln habe.

Nun war das Staunen an Knobel, und mehr als verwundert fragte er nach dem Grund für derartige Bräuche. Und so erzählte ihm der Fremde seine Geschichte.

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Quelle: E-Mail-Zusendung von Hartmut Haas-Hyronimus, vom 8. November 2004, Hoimanns Erzählungen, Nr. 1