"Rippe  von der Ulme!"



Ein Bursche und ein Mädchen hatten sich innig lieb und hätten sich gerne geheiratet. Weil aber der Bursche arm und das Mädchen reich war, gaben die Aeltern und Verwandten des Mädchens ihre Einwilligung nicht und versagten ihm für immer den Eintritt in das Haus. Die beiden Liebenden liessen darum nicht von einander und verabredeten sich oft zu einer Zusammenkunft auf dem Felde oder im Walde oder an einer Stelle, wo sie keinen lästigen Störer fürchten durften.

Einmal waren sie weit weg in einem Walde und das Mädchen war so müde, dass sie nicht nach Hause zurückkehren mochte. "Aber ich muss nach Hause!" sagte er; sie dagegen erwiederte: "Ich kann nicht, ich muss ruhen." Da erwiederte er: "Nun wol, so ruhe denn, ich lauf eilig nach Hause und dann komm' ich wieder her und hole dich ab!" Er ging, das Mädchen legte sich auf den Rasen und schlief ein.

Nach einiger Zeit — es war schon abends — kamen die Hexen und als sie das schöne schlafende Mädchen sahen, fassten sie einen grausigen Entsehluss. Sie machten Feuer an, hingen einen grossen Kessel voll Wasser darüber und warfen den Leib des Mädchens hinein, nachdem sie zuvor die Haut abgezogen und auf den Boden gebreitet hatten. Als sie sich zum Essen setzen wollten, kam gerade der Bursche wieder zurück und er musste auch mithalten. Man warf ihm eine Rippe hin, aber es grauste ihn und er steckte die Rippe heimlich ein. "Was ist denn dies für ein Fleisch?" fragte er. "Du wirst es schon bald merken,"  antworteten die Hexen. Als nun sein Blick auf die Haut am Boden fiel, merkte er es und brach in unaufhörliches Jammern und Weinen aus. Da sagten die Hexen: "Gedulde dich, wir werden es schon wieder richten!" Und als sie gegessen hatten, sammelten sie alle Beine und warfen sie auf die Haut, aber es fehlte eine Rippe. Sie suchten und suchten und konnten sie nicht finden — denn der Bursche hatte selbe ja in der Tasche und getraute sich nicht es zu sagen. Da schnitzte eine Hexe eine Rippe vom Holze einer Rüster oder Ulme und warf sie zu den Beinen; dann sagte sie: "Nun will ich dich wieder lebendig machen; wenn es aber Einer weiss, was du für eine Rippe im Leibe hast und zu dir sagt: "Rippe von der Ulme!" so fällst du um und bist todt!" Dann stiess sie mit dem Fusse die Haut und die Beine fort — da stand das Mädchen wieder lebendig auf und der Bursche durfte sie nach Hause führen. Sie sah aber mager und elendiglich aus und war fast nur Haut und Bein. Weil das Mädchen nun so schlecht aussah und jede Hoffnung auf einen reichern Freier geschwunden war, gaben ihre Aeltern und Verwandten ihre Einwilligung zur Heirat.

Aber mit der Schönheit war auch die Gute des Herzens entschwunden und aus dem Mädchen wurde ein nicht nur hässliches, sondern auch böses herzloses Weib, welches ihren Mann auf jede Weise peinigte und quälte, so dass er ihr nichts zu Danke thun konnte. Oft drohte er ihr: "Gib Acht, dass ich nicht einmal ein dir verderbliches Wort ausspreche!" — aber es half doch nichts. Als sie ihn wieder einmal in heftigen Zorn versetzt hatte und nicht abliess, ihn noch mehr zu reizen, konnte er sich nicht länger halten und rief ihr zu  "Rippe von der Ulme!" Da fiel sie um und war todt.

Quelle: Märchen und Sagen aus Wälschtirol, Ein Beitrag zur deutschen Sagenkunde, gesammelt von Christian Schneller, Innsbruck 1867, Nr. 12.2, Seite 21
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Helene Wallner, 2007.
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