Das Mädchen mit den goldenen Zöpfen (Quella dalle drezze d'oro)
Ein König  hatte einen Maier in der Nähe seines Schlosses; dieser starb und hinterliess  einen Sohn, Namens Tilio und eine Tochter. Diese war ein wunderschönes Mädchen,  aber es lag auf ihr der Zauber-jbann, dass kein Sonnenstral auf sie fallen  durfte, sonst würde sie durch eine geheime Zauberkraft augenblicklich in den  Bauch eines grossen Wallfisches versezt worden sein. Drei wunderbare  Eigenschaften zeichneten sie aus; sie hatte goldene Haare, dann durfte sie nur  die Hände reiben und es fielen, so lange sie rieb, die schönsten Weizeukörner  aus ihren Händen auf den Boden und endlich, wo sie nur den Fuss hinsetzen  mochte, da erglänzten ihre Fussspuren vom reinsten Golde. Aber dem Könige war  sie unbekannt geblieben, da sie ihr Zimmer nie verlassen hatte.
        
        Mit der  Zeit kam dem Könige — denn er war noch jung — die Lust zu heiraten und da Tilio  bei ihm in Gnaden stand, zog er ihn in's Vertrauen und verlangte seinen Rath zu  hören. Tilio schlug dem Könige viele Prinzessinnen und edle Fräulein vor, aber  keine gefiel demselben. Endlich erzählte er, dass er eine wunderschöne  Schwester habe und welche Eigenschaften sie besitze, verhehlte aber dabei  nicht, welcher Zauber auf ihr laste. Da wollte der König sie sehen und befahl dem  Tilio mit einer Hofkutsche nach Hause zu fahren und seine Schwester zu holen.  Tilio fuhr hin mit einem ganz geschlossenen Wagen und nachdem er die Schwester  bewogen hatte in den Wagen zu steigen und zum Könige zu kommen, kehrte er die  Pferde selbst lenkend wieder zum königlichen Schlosse zurück. Aber auf dem  Wege. begegnete er zwei Frauen, einer alten und einer jungen, die waren beide  hässliche Hexen und stellten sich, als könnten sie vor Müdigkeit und Ermattung  nicht mehr weiter. "Herr", flehten sie kläglich, "nehmt uns in Euern  Wagen, sonst müssen wir hier am Wege verschmachten!" Tilio wollte nichts  davon hören, aber seine Schwester bat so, dass er endlich abstieg und beide in  den Wagen nahm. Während er aber weiter fuhr, bohrte die alte Hexe unvermerkt ein  Loch in den Wagen, ein Sonnenstral fiel auf das schöne Mädchen und schon in  demselben Augenblicke war sie im Bauche eines Wallfisches im nahen Meere.
        
        Der König  wartete schon auf Tilio; war aber das eine Ueberraschung, als er den Wagen  öffnete und statt seiner Schwester die zwei hässlichen Hexen ausstiegen! Diese  hatten auch durch geheimen Zauber bewirkt, dass Tilio nicht reden durfte und  der König blieb daher bei der Meinung, die jüngere der Hexen sei wirklich  Tilio's Schwester. Er liess mit wenigen Worten die beiden Hexen in eine Wohnung  im hintersten Theile des Schlosses führen; als er aber mit Tilio allein war,  ergoss sich sein Zorn über die vermeintliche Täuschung in vollem Strome. Der  arme Tilio wollte reden und den König aufklären, aber er vermochte den auf ihm  lastenden Zauber nicht zu brechen. Der König verwies ihn zwar des Hofes nicht  ganz, aber er legte ihm zur Strafe auf künftig die Gänse zu hüten.
        
      Schon am  nächsten Morgen trieb Tilio die Gänse auf die Weide und sah es nicht ungern,  dass sie immer weiter und weiter sich vom Schlosse entfernten, bis sie an das  Ufer des Meeres kamen.  Da ging Tilio  ganz nahe an das Meer hin und rief: »Wallfisch, lieber Wallfisch, reiche mir  heraus sieben Ellen Bänder, damit ich meine Schwester sehen kann!" Nun kam  sie heraus und tröstete den traurigen Bruder; zugleich rieb sie die Hände und  die Gänse pickten die Weizenkörner gierig auf.   Und Tag für Tag kam Tilio zum Meere und sah seine Schwester; die Gänse  aber wurden schön und fett und so oft sie abends nach Hause getrieben wurden,  schnatterten sie: 
"Wir waren draussen am Meeresstrand
Und hielten ein Mal gar reichlich und fein;
Wir sahen Tilio's Schwesterlein,
Wie ist sie schön — so schön wie ein Stern,
Bald wird sie die Braut von unserm Herrn!"
Oefters  hörte es auch der König und sagte zu sich: "Ei, was soll denn das Geschnatter  dieser Thiere bedeuten?" — denn er verstand wol die Worte, aber nicht den  Sinn derselben.
        
        Die  beiden Hexen aber grämten sich und brüteten über einem Plane, wie sie den  verhassten Tilio sicher verderben könnten. Sie wussten mit grosser Schlauheit dem  Könige die Meinung beizubringen, Tilio sei ein Zauberer und er könne, wenn er  wolle, in Einer Nacht die schönsten Blumen und Gewächse in den Garten zaubern.  Da rief ihn der König zu sich und befahl ihm seinen Garten mit den schönsten  Blumen und Gewächsen zu schmücken. Vergebens widerstrebte Tilio und wollte den  König überreden, er sei kein Zauberer und vermöge das nicht auszuführen, was  ihm der König ansinne, aber dieser sprach ernst: "Wenn du in drei Tagen nicht  thuist, was ich dir geboten habe, so ist dein Leben verwirkt!"
        
        Traurig  trieb Tilio am folgenden Tage die Gänse auf die Weide. Als er zum Meere kam und  seine Schwester wieder sah, erzählte er ihr, was ihm der König geboten habe.  Sie aber tröstete ihn und sagte: "Kehre heute abends den Garten fleissig aus  und morgen wirst du sehen!" Tilio that es und als der nächste Morgen kam,  erfüllte der Geruch der herrlichsten Blumen die ganze Gegend um das Schloss; das war  eine Pracht, wie man sie nie geschaut hatte. Der hocherfreute König nahm nun  Tilio wieder zu Gnaden auf und wollte, er solle bei ihm im Schlosse bleiben; aher  dieser erbat sich die Gnade, wie bisher, Gansehirt bleiben zu dürfen. Sonst  hätte er ja seine liebe Schwester nicht mehr täglich sehen können.
        
        Die  beiden Hexen aber ruhten nicht und brachten dem Könige den Glauben bei, Tilio  könne, wenn er wolle, auch alle Arten von Brücken und Brücklein in den Garten  zaubern. Der König rief ihn und legte ihm unter derselben Drohung wie das erste  Mal das Gebot auf, ihm seinen Willen zu thun. Tilio ging zu seiner Schwester  und erzählte es ihr, diese aber sprach: "Kehre heute abends die Mauern des  Schlosses rein vom Staube und von den Spinnegeweben und morgen wirst du  sehen!" Tilio that es und als der nächste Morgen anbrach, da standen im  Garten überall an den geeigneten Stellen eine Menge zierlich geschwungener Brücken  und Brücklein mit glänzenden goldenen Kugeln und gleissendem Zierrath, dass es  eine wahre Freude war, sie anzusehen. Der König war überglücklich; Tilio jedoch  nahm wieder keine andere Gnade an, als die, Gänsehirt bleiben zu dürfen.
        
        Die  beiden Hexen waren ausser sich vor Wuth. Mit verstellter Demut nahten sie sich  abermals dem Könige und bedeuteten ihm, Tilio könne, wenn er wolle, auch  Quellen und Bäche mit allen Arten von Fischen in den Garten zaubern. Der König  liess ihn kommen und befahl ihm durch seinen nun mit den schönsten Blumen und  Brücken gezierten Garten auch Quellen und Bäche mit allen Gattungen von Fischen  fliessen zu machen. Tilio sagte nicht ja und nicht nein, sondern trieb seine  Gänse abermals zum Meere hinaus und besprach sich mit seiner Schwester. Diese  sagte: "Geh hin und kehr' abermals den Garten und morgen wird der Wunsch des  Königs erfüllt sein. Wenn aber die Fische kommen, so gib wol Acht; der lezte  wird ein grosser Wallfsch sein, aus diesem werde ich heraus springen und du  musst mich mit den Armen auffangen. Dann bin ich erlöst." Tilio that, wie  ihm seine Schwester geboten hatte; der König aber lud auf den folgenden Morgen  eine Menge von Herrn und Rittern ein.
        
        Als der  Tag anbrach, flossen durch den Garten eine Menge von Quellen und tiefen Bächen  mit frischem spiegelhellem Wasser und als der König mit seinen Gästen in den  Garten gekommen war, begann auch der Zug der Fische. Zuerst kamen die kleinen,  die glänzten in allen Farben, aodann kamen die grössern mit allerlei seltsamen  Farben und Gestalten, endlich die Wallfische. Zulezt kam der grösste von allen,  der öffnete plötzlich seinen Rachen und heraus sprang eine Jungfrau von  blendender Schönheit, die Schwester Tilio's, der schon bereit stand und sie mit  seinen Armen auffing.
        
        Nun war  aller Zauber gelöst und Tilio erzählte dem Könige den ganzen Hergang der Sache.  Da gab es eine lustige fröhliche Hochzeit, dergleichen nie eine noch im Lande  gewesen war. Die beiden Hexen aber wurden vor dem Schlosse nuf einem hohen  Scheiterhaufen zu Asche verbrannt.
      
Quelle: Märchen und Sagen aus Wälschtirol, 
        Ein Beitrag zur deutschen Sagenkunde, gesammelt von Christian Schneller, 
      Innsbruck 1867, Nr. 22, Seite 51 
      Für SAGEN.at korrekturgelesen von   Helene Wallner, 2007.
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