Vorwort zur Erstausgabe

Der Wert der Volksüberlieferungen für Sprache und Poesie, für Kultur- und Sittengeschichte, für christliche Kunst und Symbolik ist bei uns nicht so schnell anerkannt worden, als vieles andere, was uns ferner liegt. Nur allmählich, nach langem Umherirren in der Fremde, kehrt man seit 50 Jahren zurück in die Heimat und lernt auch des eigenen Volkes Sinn und Art verstehen. Wer sich bis jetzt noch nicht gekümmert hat um des Volkes Naturglauben, Sitte und Brauch, um die wissenschaftlichen Bestrebungen für deutsche Mythologie und deutsches Altertum, der wird schwer begreifen, warum man derlei Dinge durch den Druck der Nachwelt überliefert. Zur Verständigung haben indes Grimm, Wolf, Müllenhoff, Kühn, Panzer, Weinhold, Rochholz u.a. so viel geschrieben, daß es hier überflüssig erscheint, dem hellen Tage noch ein Licht anzuzünden.

Für solche, die romantische Geschichten, Schwanke und dergleichen Lesefutter suchen, ist dieses Buch nicht geschrieben, ebensowenig für die Jugend. Die Alpensagen habe ich für solche gesammelt, die Interesse haben an der schlichten Naturdichtung und Anschauungsweise des deutschen Volkes. Den Freunden des deutschen Altertums, insbesondere den Kennern deutscher Mythologie, denen ich hier zum ersten Mal auf diesem Feld begegne, habe ich meinen Standpunkt anzudeuten.

Was wir anstreben, darüber kann kein Zweifel mehr sein. Als der kräftige Stamm der Naturreligion abdorrte, und die warme Sonne des Christentums neue Sprossen hervorlockte, trieb die alte Wurzel noch einzelne Schößlinge, deren abgefallene Blätter wir auflesen, um uns, so gut es noch geht, ein Bild zusammenzusetzen von dem alten Baum. Die gesammelten Blätter tragen die Färbung des Ortes und der Zeit, und nur mühsam erkennt man noch die letzten Spuren des ursprünglichen Grüns.

Treue, wörtliche Wiedergabe des Gefundenen war mein erstes Gesetz, Vorsicht in der Deutung mein zweites. Die Mythologie hat, verglichen mit der Naturforschung, Geschichts- und Sprachforschung, noch einen unsicheren Boden; erst die Masse des Gesammelten vermag zu Ergebnissen zu führen. Was der Volksmund sagt, das berichte ich, weiter nichts. Ich sehe den Inhalt als eine historische Urkunde an, die man nicht fälschen darf. Eine Anzahl hie und da zerstreuter und für den wissenschaftlichen Gebrauch wenig zugänglicher Überlieferungen habe ich aufgenommen, soweit sie mir zuverlässig schienen; das meiste beruht auf mündlicher Mitteilung. Es sind gerade 50 Jahre, seit Jakob Grimm in der "Zeitung für Einsiedler" (Nr.19.20 vom 4. Juni 1808) den kleinen Aufsatz schrieb: "Gedanken, wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten." Das war die erste Anregung; sie stand aber nicht vereinzelt. Das geistige Leben des Volkes, soweit es ins Gebiet der Literatur gehört, liegt in Spruch und Lied, im Märchen und in der Sage, im Volksspiel und im Brauch. Schon 1778 hatte Herder seine "Stimmen der Völker" veröffentlicht und 1782 schrieb er über den "Geist der hebräischen Poesie". Im selben Jahr bearbeitete Musäus die Volksmärchen. Voß übersetzte den Homer und F.A. Wolf und Herder erweckten das Verständnis für dieses Volksepos (1795). Tieck wandte sich der Volksdichtung zu und bearbeitete die Volksbücher; 1806 erschienen die Volkslieder von Arnim und Brentano, und 1807 ließ Goethe den Faust I drucken. Von der Hagen erneuerte das Nibelungenlied und J. Görres schrieb über die deutschen Volksbücher. . .

Allbekannt ist der wohltätige Einfluß, den die Naturdichtung des Volkes auf die Kunstpoesie ausübte. Seitdem das dichterische Schaffen in den Hintergrund trat, machte sich die wissenschaftliche Erforschung unserer Sprache und ihrer Denkmäler, des deutschen Rechts und der deutschen Sitte geltend. Es folgten die großen Werke der Brüder Grimm und ihrer Mitarbeiter. Gegenüber der novellistischen Einkleidung der Volksdichtung durch Musäus und durch Tieck (Phantasus 1812) erzählten die Brüder Grimm die "Kinder- und Hausmärchen" in der schlichten Weise des Volkes, und 1816 und 1818 erschienen die "Deutschen Sagen". Aus diesen wenigen Steinen errichtete J. Grimm 1835 das erste Gebäude der "Deutschen Mythologie", und seit jener Zeit begannen auch an dere die Bausteine aus den verschiedenen Teilen des Vaterlandes zu sammeln. Die Alpenländer sind noch zurück. Vonbun, Zingerle und Rochholz haben das Ihrige beigetragen. Eine Anzahl Sagen sind, mehr oder weniger ausgeschmückt in Almanachen und Volksblättern zerstreut, sehr viele sind in Versen erhalten.

Alpensagen habe ich diese Reste genannt, weil sie dem Gebiet vom Genfersee bis zu den nordöstlichen Ausläufern der Alpen an der Donau angehören.

Das weite Alpengebiet bedarf noch näherer Erforschung; ich habe mich auf ein Gesamtbild beschränken müssen, und dabei haben mir vor allem Kuhns norddeutsche Sagen als Muster gedient.


Seit 12 Jahren habe ich die meisten Alpentäler zwischen Bern und Wien zu Fuß durchreist. Als Mitglied der zürcherischen Gesellschaft für Altertum unternahm ich es schon 1846, die Volksüberlieferungen in der Schweiz zu sammeln, wo ich 14 Jahre lang gelebt habe. Ich hatte mit Beihilfe unseres Präses, Dr. Ferdinand Keller, alle Vorbereitungen zu einer umfassenden Arbeit getroffen. Jakob Grimm erlaubte mir, auch das von ihm Gesammelte aufzunehmen, indem er mir schrieb: "Wo sich ein Strom zusammengetan hat, warum sollte er nicht auch den Bach an sich ziehen? - Die ganze Schweiz ist ein sehr schöner Bezirk und einer der reichhaltigsten, den man sich in Deutschland denken kann.". ..

Leider ist es ein kleiner Fluß geblieben, denn schon 1850 folgte ich einem Ruf nach Wien, von wo aus ich in den Ferien die östlichen Alpenteile bereiste. Was ich gesammelt habe, gebe ich wieder, und sollten es auch nur einige Hauptzüge aus einer Mythologie der Alpen sein. Das ganze ist ohne Zwang nach verwandten Gruppen geordnet, jedoch könnten einzelne Sagen auch einer anderen Gruppe zugeteilt werden...

Mit Zitaten bin ich absichtlich sparsam gewesen, denn die Sagenliteratur ist so angewachsen, daß Zitate allein ein Bändchen füllen könnten. Ein zusammenfassendes, vergleichendes Werk wird nicht ausbleiben, wenn einmal alle Teile des deutschen Landes vertreten sind. Reiche Ausbeute würden die historischen Sagen der Alpenländer liefern; ich habe viele beiseitegelegt, weil der Mythologie und Sittenkunde wenig Gewinn daraus erwächst.

Jeder Landstrich hat seinen eigentümlichen Mythencharakter, wie er auch seine besondere Mundart hat. Im deutschen Norden, welcher länger am Heidentum festhielt, mußte sich die Erinnerung an Götter und Göttinnen frischer erhalten als im deutschen Süden. Hier sind die Göttergestalten sehr abgerieben und es mußte der Zusammenstoß keltischer, römischer und später germanischer Anschauungen die Ausbildung des Götter-Kultus hemmen. Auch Bodenbeschaffenheit und Volkscharakter sind im Süden wesentlich anders als im Norden. Das Liebliche, der zarte Duft von Poesie, der den Volksüberlieferungen des Flach- und Hügellandes eigen ist, findet sich nicht in den Alpen. Das Reich der Märchen scheint den Hochalpen beinahe verschlossen. Wo der Mensch so mit der Natur zu kämpfen hat, kann die Phantasie keinen kühnen Flug nehmen. Minder rauhe und hohe Berge wie der Parnaß, Helikon, unser Brocken etc., welche nur ein kleines Gebiet beherrschen, veranlaßten einen viel bequemeren Verkehr zwischen göttlichen Wesen und den Menschen. Auf dem Monte Rosa oder der Jungfrau oder dem Glärnisch konnte man sich keine Göttersitze denken. Dagegen mußten sich hier so zahlreiche Mythen bilden, welche an die uralte Überlieferung vom verlorenen Urzustand der Menschheit erinnern. Eine große Rolle spielen die Sagen von den bergbewohnenden Mittelwesen (Zwerge, Wildleute, Berggeister) und den mythischen Tieren. Nixensagen sind im Alpenland selten. Große Verschiedenheit bietet wiederum das westliche (schweizerische) Alpenland gegenüber dem östlichen (österreichischen) Sagen von Vergletscherungen und untergegangenen Orten habe ich im Westen zahlreicher gefunden als in den österreichischen Alpen, wo diese Sage namentlich der "übergossenen Alp" im Salzburgischen sich anschließt. Von den Zwingherrensagen trifft man nach Osten hin fast gar keine. In den österreichischen Alpentälern, insbesondere in der Steiermark, waltet ein Zug vor, den man Personifikation nennen kann. Abergläubische Bräuche sind im Osten weit verbreiteter als im Westen. In Nieder- und Oberösterreich scheint die Sitte des Zukunftforschens (Losengehens) am meisten eigentümlich. Das Streben des Menschen, die Zukunft zu ergründen, ist ein natürliches; wie lange ist die Zeit der Orakel vorüber, und noch heute wandert das Volk nach dem Brünnlein von Sievering (bei Wien), noch heute wird in der Thomasnacht an tausend Orten Blei gegossen.

Sage, Spruch und Brauch sind eine wunderbare Chronik, in welche die Menschen aller Zeiten die Mysterien ihres innersten Gemüts- und Gedankenlebens eingetragen haben.

Mit der Mundart ändert sich auch der Mythencharakter. Über diesen Punkt bleibt noch vieles zu forschen übrig. Außer dem, was ich eben berührt habe, muß es auffallen, daß jede der vorhandenen Sammlungen neben dem vielen Gemeinsamen (z.B. Zwerge, Teufel, Schatzgräbereinen, Hexen etc.) immer etwas Eigentümliches bietet. Bayern ist das Land der drei Schwestern, in Schwaben herrscht das "Mutesheer", in Siebenbürgen sind vorzugsweise die Hünen zu Hause, mehr als im Elsaß, weit mehr als in dem berglosen Schleswig-Holstein. In Mittel- und Süddeutschland haften noch mehr weibliche mythische Wesen, im Norden mehr männliche; im Süden ist der Schimmelreiter eine Hauptperson, während Donar nicht so bestimmt hervortritt. Seitdem ich mein Augenmerk auf das nordwestliche Österreich gerichtet habe, erscheint mir Böhmen vorzugsweise als das Land der Heldenhügel und Schatzberge, Mähren als das der Wassergeister. Das Märchen ist überall zu Hause, aber vielleicht nirgends mehr als in Böhmen, wo Slawisches und Deutsches seit Jahrhunderten sich innig gemischt hat. Aus einem Sagenvergleich wird die Ethnographie und die Kulturgeschichte einst reichlich Gewinn ziehen. In der Sagengeschichte und Dichtung einer Nation liegt das tiefere und allgemeine Wesen. "Was sich nie und nirgend hat begeben, das allein veraltet nie." Ich habe darum "die übrigen Brocken gesammelt, damit nichts umkomme".

Wien, am 1. November 1857.

Theodor Vernaleken