§. 19. D. Sachsen und Chaudrun.

Wenn in den bisherigen Gedichten die Völkerwanderung als geschichtliche Grundlage der mannigfaltigen Sagen sichtbar wurde, eben weil Gothen und Franken die Führer jener Bewegung nach Südwest und Nordwest waren, so erscheinen nun die Normannenzüge als eine ähnliche Basis, obwohl durchaus nicht in gleich großer Bedeutung. Die Normannen, von Norwegs Küsten, vorzugsweise aber von den Dänischen Inseln ausgehend, welche eben zusammen mit Schweden und Finnland Wilkinaland heißen, drangen von Norden nach Süden und schifften die in die Nordsee strömenden Flüsse, Seine, Rhein, Wesel, Elbe oft weit hinauf. Ja, auch im Mittelmeer waren sie gefürchtet. Einen mehr zusammenhangenden Kampf führten sie mit den Stammverwandten Angelsachsen und mit den ihnen vereinten Völkern in England und dies mag wohl auch der Boden sein, welcher, wenn auch dunkel, dem Gedicht von der Chaudrun (Gudrun) zu Grunde liegt. Der Sächsische Stamm hat gar kein eigentliches Epos, in welcher Bestimmung auch der Fränkische schon weit hinter dem Liederreichen Gothischen zurücksteht, wie sich dies noch darin zu erkennen giebt, daß die Spanier einen epischen Grundton auch in ihrem Drama haben, welcher den Franzosen so sehr ermangelt, daß sie in der Tragödie immer zu andern Völkern flüchten. Das Gedicht von Chaudrun steht ganz einsam da. Am meisten trifft es noch mit der in vielen Punkten analoge Züge darbietenden Geschichte von Hornkind und Maid Rimenild, und doch nur sehr entfernt zusammen. Wir haben das Gedicht nur in einer einzigen Bearbeitung in der vierreimigen Strophe. Es kommt im Ausdruck, m der Kunst der Darstellung und in der Virtuosität des Versbaues den Nibelungen ziemlich nahe, wiewohl es in der Tiefe der Charaktere und in der Größe der Begebenheiten ihm nachsteht. Erwähnt wird es in andern Gedichten öfter, z. B. in Biterolf und Dietlieb, im Lohengrin, im Wartburgkrieg u. a. Das ganze Gedicht hat eigentlich zwei Sagen in sich verarbeitet. Die erste ist die, wie Hagene, Sigebands von Irland Sohn, mit Hilde von Indien eine Tochter Hilde zeugt. Diese läßt ihm Hettel von Hegelingen durch Wate, Horant und Fruote (von Dänemark), welche als Kaufleute verkleidet sind, entführen, weshalb Hagene mit einer Flotte heranzieht und es zur Schlacht kommt, die jedoch einen friedlichen Ausgang hat. Hettel erzeugt mit Hilde eine Tochter, die überaus schöne Chaudrun, um welche sich Seyfried von Morlant (Morungen), Hartmuth von der Normandie und Herwig von Seeland bewerben Dem Letzteren wird sie verlobt. Während er aber mit benachbarten Völkern in Krieg begriffen ist, raubt sie Hartmuth, dessen Vater Ludwig und Mutter Gerlint sie sehr hart behandeln, da sie den Sohn zu heirathen weigert. Nach achtzehn Jahren dieser Gefangenschaft kommen ihr Bruder Ortwein und ihr geliebter Herwig, sie aus derselben zu befreien. Die Burg wird listig erobert und dem schweren Kampf folgen mehrfache versöhnende Vermählungen, unter denen die Herwigs mit Chaudrun oben ansteht. In diesem Gedicht kommen nun eine Menge interessanter Züge vor, wie die Spiele, durch welche Horant und Wate den alten König sicher machen und für sich gewinnen; ferner die Engelerscheinung in Vogelgestalt, welche der Chaudrun das Annahen ihrer Erlösung verkündigt; das Waschen Chaudrun's mit ihrer Freundin Hildburg am Strande des Meeres, welchem die rührende Scene des Wiedersehens folgt, u. s.f. Was aber das Eigenthümliche dieses Epos ausmacht, ist sein Princip, das Weib. Nicht ist hier nämlich die Blutrache oder das Vasallenverhaltniß für sich das Bewegende in den Handlungen, in der Gesinnung, sondern es ist schlechthin' die Liebe. (Ueber Aschenbrödel.)

Abgedruckt bei v. d. Hagen. Th. I. 1820. 32 Abenteuer, 6824 Verse.

Quelle: Das Heldenbuch und die Nibelungen, Karl Rosenkranz, Halle 1829, S. 36ff
© digitale Version www.SAGEN.at