Die Spinnerin am Kreuz
1. Fassung


Dicht bei Wien, wenn er die Vorstadtlandstraße hinter sich hat, erblickt der Wanderer auf dem Rücken des Wienerberges ein steinernes Denkmal von ziemlich hohem Alter und schöner, künstlicher Arbeit. Es ist eine verzierte gotische Kreuzsäule, die von allem Volke die "Spinnerin am Kreuz" genannt wird.

Vor Zeiten stand an dieser Stelle nur ein einfaches Holzkreuz, dem Verfall nahe; nun wohnte in geringer Ferne davon eine arme, aber fromme Frau, die täglich bei dem Kreuze betete; diese nahm sich's sehr zu Herzen, daß dem Kreuz der Einsturz drohte, und beschloß, zu Ehren Gottes das Kreuz zu erhalten oder ein neues aufrichten zu lassen.

Die fromme Frau setzte sich nun Tag für Tag mit ihrer Spindel an das Kreuz und spann und spann, sprach auch die des Weges Ziehenden um eine Gabe für das Kreuz an, die aber meist gar gering ausfiel. Und was sie erbat und erspann, das legte sie, sich zur Fristung ihres eigenen Lebens nur auf das Allernotwendigste beschränkend, alles zurück. Die Reisenden allzumal wurden des Anblicks der Armen so gewohnt, daß sie von ihnen nur die Spinnerin am Kreuz genannt wurde. Allmählich mehrte sich das zurückgelegte Geld, das die Spinnerin in treue Hände niederlegte, so daß das gegenwärtige Denkmal fast ausschließlich vom Fleiß ihrer Hände erbaut werden konnte. Freudig sah sie das Steinkreuz sich erheben mit seinen Figuren und Zieraten, und als es nun vollendet war, da spann sie nicht mehr, betete aber um so brünstiger dort und entschlummerte für das ewige Leben zu des Kreuzes Füßen.

Zum Gedächtnis dieser Frommen nennt man nun noch das Denkmal nach ihr: Die Spinnerin am Kreuz.

Quelle: Die Sagen und Legenden der Stadt Wien, herausgegeben von Gustav Gugitz, Wien 1952, Nr. 125/1, S. 133f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Anja Christina Hautzinger, Mai 2005.