5. [Der zürnende Brunnenmann auf Kammerstein]

Ruine Kammerstein © Harald Hartmann

Ruine Kammerstein, Innenseite der Palaswestwand
eine der ältesten Burgruinen Österreichs
©Harald Hartmann, April 2005

Auf einer waldigen Anhöhe, links an der Straße von Rodaun nach Kaltenleutgeben (Nied. Österr) sind die spärlichen Überreste der alten Feste Kammerstein zu sehen. In derselben steht ein Brunnen, von welchem man folgendes erzählt:

Der letzte Besitzer vergeudete sein Erbtheil [Erbteil] auf alle nur erdenkliche Art, bis er endlich arm und verlassen von seinen früheren Freunden sich auf sein noch übrig gebliebenes Gut - die Feste Kammerstein - zurückzog. Hier schmiedete er allerlei Pläne, um wieder zu seinem Vermögen zu kommen. Als er eines Tages in dem Schlosshofe an dem Brunnen vorbeigieng, tauchte aus demselben ein grünlicher Mann mit langen Nägeln und glatt herabhängendem Haare hervor, welcher ihn mit grinsendem lachen fragte: Warum bist du so traurig? Der erschrockene Gutsherr wuste nicht was er sagen sollte; endlich stotterte er heraus, daß er kein Vermögen habe. Der Mann sagte: Komm mit mir, ich werde dir Geld geben. Er führte ihn dann durch einen dem Gutsherrn unbekannten Gang, und blieb vor einer eisernen Thür stehen. Diese sprang auf, und sie giengen in ein spärlich beleuchtetes Gemach, in welchem Kisten voll Gold und Silber angehäuft waren. Der Mann sagte dann: Hier nimm so viel du willst, laß dich aber nicht mehr an dem Brunnen blicken, denn sonst must du tausend und abermals tausend Jahre diesen Schatz hüten. Sodann verschwand er. Der Gutsherr nahm eine ungeheure Summe in Gold mit sich, und gieng einem vor ihm hertanzeuden Flämmchen nach, welches ihn denselben Weg zurückführte. Der nun reich gewordene Mann verließ augenblicklich das Schloß, zog nach Wien und lebte dort in Saus und Braus. Einige Jahre waren verflossen, als er mit mehreren Gefährten auf die Jagd gieng. Nach derselben giengen sie auf die Feste Kammerstein los. Als sie beinahe den Hügel erreicht hatten, stund ein kleines Männchen mit langem weißem Barte und langen weißen Locken vor ihnen, hob dreimal drohend den abgemagerten Finger in die Höhe, und sprach zu dem Schlossherrn: Denk an dein Versprechen! Dann verschwand er. Der Gutsherr lachte überlaut, und erzählte seinen Freunden von dem Geiste, erwähnte aber nicht, daß er von ihm Geld bekommen habe. Lachend und scherzend ritten sie in die Burg hinein, und begaben sich in den Prunksal und thaten sich gütlich. Die Freunde des Schlossherrn spotteten seiner, indem sie sagten, er getraue sich jetzt nicht dem Brunnen zu nahen. Der Gutsherr sprang auf und sagte: Das wollen wir sehen, gieng mit seinen Freunden in den Schlosshof, und von da zu dem Brunnen. Kaum dort angelangt, stund derselbe grünliche Mann mit zürnender Miene vor ihm, packte ihn, und stürzte mit ihm den Brunnen hinab. Die Begleiter fielen blaß und zitternd zu Boden, und sind dann lange Zeit krank darniedergelegen.

Zur Nachtszeit hört man ein klägliches wimmern und stönen. Der Brunnen ist jetzt noch zu sehen. Mehrere Leute haben den Versuch gemacht Schätze auszugraben, aber ohne Erfolg.

Brunnen auf Kammerstein © Harald Hartmann

Ruine Kammerstein, Brunnenanlage
vom "Kammersteiner Bründl", südöstlich vom Bergfried, 12 m höher gelegen, mit einer "Mehrung" versorgt
©Harald Hartmann, April 2005


Quelle: Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken, Wien 1859. S. 169ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.