28. [Eine Wasserjungfrau besucht Zwerge]
In Mähren liegt wenige Stunden von der Hauptstadt des Landes das
Städtchen Rossitz. Es ist umgeben von Waldungen, durch welche sich
die Berritz schlängelt, die etwa eine halbe Stunde von Rossitz sich
in einen großen Teich ergießt. Dieser wird der Jungfrauenteich
genannt, und man glaubt, er sei nicht zu ergründen. Es hat einmal
ein Fischer drei Fahrbäume (Ruderstangen) an einander gebunden und
dennoch keinen Grund finden können; ja er kaufte sich sogar ein großes
Knäul Bindfaden und festigte an das eine Ende eine Bleikugel. Diese
nun ließ er hinab, aber das Knäul lief zu Ende und noch war
kein Grund gefunden. Einige Schritte von dem Teiche entfernt steht ein
Felsen und an dessen kegelförmiger Spitze befindet sich eine Öffnung,
das Blutloch genannt. Nicht weit von diesem entfernt liegt ein Berg, der
s. g. Zwergenberg. Auf dessen Spitze ist ein menschenähnlicher Felsen,
der Zwergstein, mit beinahe ganz ausgebildeten Formen, besonders den Händen
und dem Kopfe.
In dem Teiche - so erzählt man - lebten einst mehrere Wasserjungfern.
Diese warfen oft den Schiffern die Kähne um, oder umgaben sie plötzlich
mit einem dichten Nebel, so daß sie aus dem Teiche, welcher damals
einem kleinen See glich, nicht im Stande waren das Ufer zu finden, bis
der Nebel sie wieder verließ. Wenn die Jungfrauen in ihrer natürlichen
Gestalt waren, so hatten sie einen meergrünen Körper und eben
solche Zähne, zuweilen einen Schlangenleib. Die Wasserjungfrauen
vermochten sich aber auch in menschliche Gestalten zu verwandeln. Eine
derselben umgab sich mit dichtem Nebel und gieng nach dem Zwergenberge,
um sich mit den Zwergen zu belustigen, denn sie hatte das unterirdische
Treiben derselben mit ihren scharfen Augen entdeckt. Es wagte keiner der
Bewohner den Berg zu betreten, aus Furcht ergriffen und in die unterirdischen
Höhlungen geschleppt zu werden. Viele der dortigen Bauern halten
es auch jetzt noch nicht für gerathen den Berg zu besteigen. Die
Zwerge nahmen jene Wasserjungfrau gütig auf, und jedesmal wurde sie
von zwei Zwergen bis an das Ufer des Teiches begleitet. Dieser Besuch
geschah jedoch ohne Mitwissen der Schwestern im Teiche. Als sie es erfuhren,
beschlossen sie sich für diese Zurücksetzung an der einen zu
rächen. Als sich diese einst wieder zu ihren Freunden, den Zwergen,
begeben hatte, lauerten ihr die Schwestern an dem Rande des Teiches hinter
einem Felsstücke verborgen auf. Sie wusten die Stunde ihres kommens,
denn sie hatten es von einem treulosen Zwerge erfahren. Als nun die Wasserjungfrau
anlangte, da stürzten ihre Schwestern aus dem Versteck hervor und
zogen die beiden Zwerge sammt ihr in die unergründlichen Tiefen des
Teiches. Am andern Tage sahen Schiffer an der Öffnung des Felsens
drei große Blasen, welche blutroth gefärbt waren, und jetzt
noch behaupten die Leute, daß immer nach zwanzig Jahren dieselben
wieder erscheinen. Die kreisförmige Öffnung nennen sie das Blutloch.
Die drei Blasen sollen die Seelen der beiden Zwerge und der Wasserjungfrau
sein. Jener Zwerg aber, welcher die Wasserjungfrau und seine Brüder
auf eine solche Art dem Tode preisgegeben hatte, entgieng der Strafe nicht.
Er ward versteinert und steht so da als ewiges Warnungszeichen.
Von den Wasserjungfrauen hört man seit jener Zeit nichts mehr, sie
sollen sich in die Sazawa begeben haben. Um das Blutloch wächst alle
Jahre ein bläulich grünes Kraut mit rothen [roten] Blüten.
Ein Theil [Teil] des früher so großen Teiches ist verödet
und wird der rothe Moor genannt. In der umliegenden Gegend gilt er als
Wetterprofet [Wetterprophet].
Die Zwerge begaben sich in das naheliegende Polauer-Gebirge, wo sie sich
heute noch aufhalten. Der mit Laub und Nadelholz bedeckte Zwergenberg
soll jetzt hohl und mit Wasser gefüllt sein. Wer auf seinem Gipfel
sich auf den Boden legt, und das Ohr an die Erde hält, der hört
ein rauschen im Innern des Berges. Von ihm geht die Sage, daß er
einst seinen Schoß öffnen und mit einer Sündflut alles
umliegende Land überschwemmen werde.
Quelle:
Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich. Theodor Vernaleken,
Wien 1859. S. 198f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Claudia Hackl, März 2005.