33. Warlinser Stückle.
Auf der Hochfläche zwischen Schrattenbach, Hopferbach und Böhm liegt das gute Dörflein Warlins; von dem erzählte man sich früher in der Umgebung allerlei wunderliche Geschichten, die die Warlinser aufgeführt hätten, darunter auch folgende.
1.
Die Warlinser besaßen seinerzeit noch keinen Kalender, woher es
denn kam, daß sie sich zuweilen in den Wochentagen verrechneten
und an einem unrechten Tag den sonntäglichen Gottesdienst in Böhm
besuchen wollten. Um diesem Mißstande und allen Irrtümern,
bei denen sie gar noch ausgelacht auch wurden, abzuhelfen, beschlossen
sie, sie wollten von sieben Bauern je einen Stotzen oder Kübel sich
verschaffen und diese auf einem Hausdache, zu dem alle sehen konnten,
der Reihe nach aufstellen. Jeden Tag sollte dann der Hauseigentümer
einen der Stotzen herunterholen, und wenn keiner mehr droben war, wollten
sie erkennen, nun sei es Sonntag, der Tag zum Kirchengehen. Lange erwies
sich diese Einrichtung trefflich und wußten sie jetzt doch, woran
sie waren. Da geschah es aber leider einmal, daß der Sturm die Stotzen
herunterriß; nach anderer Aussage soll man sie ihnen allesamt gestohlen
haben, und weil sie des Morgens keinen Stotzen mehr auf dem Dache sahen,
so waren sie der Meinung, es sei wieder Sonntag, und kamen so mitten in
der Woche zum Sonntagsgottesdienst. Weil sie darob arg verlacht und gefoppt
wurden, so ließen sie jetzt den Brauch mit den Stotzen abkommen
und verschafften sich nun einen Kalender.
2.
Einmal kauften sie auf einem Berg Holz, und die stärksten Mannsbilder
unter ihnen mußten die Sägeblöcke den Bergabhang heruntertragen,
was sehr mühsam war. Wie sie nun schon beim letzten waren, kam ihnen
dieser zufällig aus und rollte lustig den Berg hinab. Da schlug einer
von ihnen sich an die Stirne und rief: "Sind doch wir ung'schickt
g'wese, die Blöck drohlet ja vu seal na." Die andern aber meinten:
"Ja, das können wir schon wieder gut machen," und nun trugen
sie alle Blöcke bis auf den einen wieder den Berg hinauf und ließen
sie herunterrollen und hatten die größte Freude, daß
sie so lustig sprangen und juckten und sie sich soviel Arbeit ersparten.
3.
In einem gar heißen Sommer hatte einmal ein Warlinser Bauernweib
lange Zeit ihre Milch in der Dorfkapelle auf dem Altar aufgestellt, weil
es da herin recht kühl war und die Milch sich länger hielt.
In einem Fenster aber war eine Scheibe zerbrochen, und durch die Öffnung
kam oft ein "Hausrötele" (Rotschwänzchen) herein und
hatte alsbald auch die Milchschüsseln entdeckt, auf deren Rand es
sich oft setzte und sich an der süßen Milch und dem Rahm letzte.
Gleich oberhalb aber stand das Bild des heiligen Rochus, der mit dem Zeigefinger
auf eine Pestbeule an seinem Knie hinweist. Das Vöglein flog dann
gewöhnlich, wenn es sich mit Milch und Rahm gütlich getan, auf
den Finger und wetzte sich daran sein Schnäbelein vom hängengebliebenen
Rahm sauber. Lange hatte nun zwar schon die Frau bemerkt, "daß
ihr etwas hinter den Rahm kam", konnte sich aber nie recht enträtseln,
wer das sein möchte; war ja doch immer die Kapelle verschlossen.
Endlich bemerkte sie einmal, daß der heilige Rochus, den sie am
allerwenigsten in Verdacht gehabt hätte, am Zeigefinger Spuren von
Rahm hatte, und nun ging ihr ein Licht auf und war ihr klar, woher denn
immer die Löchlein in der Rahmschicht rührten. Offenbar war
der Rochus da öfters herabgestiegen um vom Rahm zu schlecken und
zu naschen, und darob wurde sie gar aufgebracht und fuhr das Bild wegen
seiner Unart mit harten Worten an: "Hab' ich dich jetzt erwischt,
du Schleckermaul, du Rahmschlecker du! Wart, ich will dir's vertreiben!"
und schlug mit einem Stecklein dem Heiligen so heftig auf den Finger,
daß er abbrach und herabfiel. Seitdem hat der heilige Rochus in
der Warlinser Kapelle einen "angepappten Zeigefinger", und wer's
nicht glaubt, soll hingehen und sich selbst davon überzeugen.
4.
Daß die Warlinser Weiber bisweilen eine wohl magere Küche führen
und beim Kochen mit Schmalz und Butter gar sparsam zu Werke gehen, soll
sich einmal ganz besonders auffallend bei einem "Stopfer" gezeigt
haben. Hatte da nämlich eine Frau zu Mittag einen Stopfer gekocht,
ein gar kräftiges und schmackhaftes Gericht aus "Musmehl"
(Habermehl), aber nur, wenn man das Schmalz nicht spart; sonst wird er
trocken und schlecht. Hier aber war es so. Als das Weib den Stopfer fertig
hatte, stellte sie die Pfanne samt Inhalt ein bißchen vor die Haustür,
daß sie etwas verkühle. Aber o weh! Es kam ein Windstoß,
der den ganzen Stopfer aufwirbelte und in den Lüften davontrug. Da
sollen die Nachbarsleute gemeint haben, man rassle mit einem Haufen Sensen,
andere wiederum, es habe "ein Immen gelassen" (geschwärmt),
so groß sei der Lärm von dem aufgewirbelten Stopfer gewesen.
5.
In alten Zeiten ist einem Warlinser Bauern einmal der Schimmel, den er
in der Nähe des Kirchleins auf den Wiesen hatte grasen lassen, weggekommen.
Man konnte ihn nirgends finden, und niemand wußte, wohin er gekommen
sei. Später aber stellte es sich heraus. Der Schimmel war nämlich
durch die offene Türe in die Kapelle geraten, und da er sich darin
nicht recht umdrehen konnte, wollte er wieder rückwärts heraus,
erwischte aber die Tür, und diese ging zu, so daß das Roß
eingeschlossen war. Niemand kam aber in die Kapelle, und so verhungerte
der Schimmel und ging jämmerlich zugrunde. Als sie lange Zeit später
doch einmal in das Kirchlein wollten, konnten sie die Tür nicht mehr
aufbringen, und wie sie nun zum Fenster hineinstiegen, entdeckten sie
den toten Schimmel. Man hat sie dann lange darob ausgelacht und gesagt,
im Warlinser Kirchlein sei ein Schimmel gnädig.
Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen,
Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt
von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 33, S. 38 - 42.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.