229. Walserstreiche.

5.

Die Walser hatten einstmals es lange anstehen lassen, den Kirchturm neu zu schindeln. Da bemerkten sie mit Freuden, daß da droben das Gras mächtig zu wachsen anfing, und weil sie von jeher häusliche und sparsame Leute waren, die jeden Schuh Boden ausnutzen, so beschlossen sie, das schöne Gras nicht umkommen zu lassen, sondern es abzufretzen. Da die Kirche aber Gemeindegut ist und keiner da oben auf dem Turm ein besonderes Weiderecht ansprechen konnte, kamen sie überein, sie wollten zur Umgehung aller Parteilichkeit und Einzelbegünstigung den Gemeindestier hinaufziehen; der solle es sich nur gut schmecken lassen, dann würden im nächsten Jahr die Kälber noch einmal so stark. Sie befestigten nun hoch oben eine Rolle und zogen ein festes Burdeseil darüber, dessen Ende sie dem Stier um den Hals geschlungen hatten. Jetzt zog alles, was Hände hatte, und im Nu baumelte der Stier zwischen Himmel und Erde am Seile und rückte immer höher, streckte aber auch alsbald die Zunge weit aus dem Maul. Kaum sahen das die Walser, so riefen alle: "Lueget do, er schlackt schu dernä!" Er hatte aber zum letztenmal geschlackt; denn als er beim Gras ankam, rührte er kein Glied mehr. Was die Walser hernach mit dem Gras getan, muß man sie selber fragen.

6.

Eine Walserin verlangte einmal in einem Laden zu Oberstdorf Kalender. Da sie deren gleich ein ganzes Dutzend nahm, fragte der Krämer, warum sie denn soviel brauche; sie werde wohl Handel darin treiben? "Gott bewahre," erwiderte die Walserin, "aber i mag it all Jähr dös Gschear (die Schererei) darmit hai und nimm drum glei mearner."

Eine andere Walserin war ebenfalls einmal in Oberstdorf beim Kalenderkaufen. Alle aber, die man ihr vorlegte, waren ihr zu teuer, und so fragte sie, ob man denn keine billigeren habe. "Jawohl," sagte der Kaufmann, "wir hätten schon billigere, aber die sind halt vom vorigen Jahr." Man solle ihr einmal einen solchen zeigen. Man tat es. Da besah sich die Walserin den Kalender von vorn bis hinten und sagte dann: "Der ist ja noch ganz wie neu und noch gar nicht verdorben, der tuts für uns noch ganz gere", und kaufte nun den vom Vorjahr.

7.

Ein Walser sah einmal in einem Metzgerladen zu Oberstdorf eine Menge Würste hängen. Da er so etwas noch nie gesehen hatte, fragte er wißbegierig, was denn das für kuriose Dinger seien. Ja, das seien Würste; ob er denn noch nie solche gegessen habe, sie würden ihm gewiß schmecken. Das erweckte nun des Walsers vollstes Interesse, und als er überlegte, wie ehrenvoll es für ihn wäre, als der erste die neue Erfindung ins Tal zu bringen, kaufte er um sein gesamtes Geld davon und bekam ein ganzes Bündel. Ehe er sich aber damit weiter begab, versäumte er nicht, sich noch eingehend die Art der Zubereitung erklären zu lassen, und damit er ja nichts davon vergesse, mußte ihm der Metzger in Ermangelung von Schreibpapier das Rezept mit Kreide auf seine schwarze Lederhose schreiben. Nun nahm der Walser das Wurstbündel am Stecken über die Achsel und trollte sich frohgemut weiter, daß die Würste nur so baumelten. Wie er aber in den unteren Markt kam, wollte es das Unglück, daß ein großmächtiger Metzgerhund nachgelaufen kam und, an seinem Rücken aufspringend, das Wurstbündel herunterriß. Sobald sich nun der Walser vom ersten Schrecken erholt hatte, machte er wohl Versuche, wieder in den Besitz der Würste zu kommen; aber die wilde Hünte fletschte knurrend die Zähne und "stellte sich", daß der gute Mann alsbald einsah, hier sei nichts mehr zu machen. Um sich an dem heimtückischen Räuber aber doch m einem zu rächen und ihm in Schadenfreude ein Schnippchen zu schlagen, spuckte er blitzschnell in die Hände und fing an hastig das Rezept auf seiner Hose auszuwischen, damit dieser ja keine Zeit fände, es zu lesen, und rief: "Du bruchst's ou it z'wisse, wie ma's richt't!"

So konnte sich der geschädigte Walser auf dem Heimweg doch damit trösten, daß der Hund ohne Rezept mit den Würsten nichts Rechtes anzufangen wisse.

8.

Ein fleißiger Walser wollte einmal die lange Winterszeit nicht müßig in seiner warmen Stube vergeuden, und so machte er sich daran, einen großmächtigen Kohlkratten zu flechten. Als er nach Wochen damit fertig geworden und ihn verhandeln wollte, zeigte es sich, daß er ihn nicht zur Türe hinausbringen konnte, und so blieb ihm nichts übrig, als ihn wieder "abzubrechen".

9.

Einem Walser setzten die Hafner einstens einen neuen Ofen, und nun sollte man ein Türlein dazu haben und schickte den Mann hinaus nach Oberstdorf, daß er sich dort eines bestelle. Da aber der Walser keinen Maßstab besaß und doch die richtige Größe angeben wollte, so spreizte er vor dem Ofenloch seine beiden Arme aus und nahm so die Weite ab. Um auf dem Wege seine Arme ja nicht zu verrücken, rief er allen Leuten, die ihm begegneten, schon von weitem zu: "Stoßet mi nit, i hai as Maß zum Ofeloch!" Trotz aller Vorsicht aber passierte es ihm, daß er am Schlächtebühel ausschlüpfte und die Hände verrückte, und so gelang es ihm erst das zweitemal, nachdem er wieder umgekehrt, mit dem richtigen Maß nach Oberstdorf zu gelangen. Ob das Ofentürlein hernach die richtige Größe erhalten hat, ist nicht überliefert worden.


Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 229, S. 238ff.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.