269. Das steinerne Kreuz bei Hindelang.

Etwa halbwegs von Hindelang nach Oberdorf steht hart an der Straße ein einfaches steinernes Kreuz, in das die Jahreszahl 1555 eingehauen ist. Hier soll ehedem ein Wald gestanden haben, genannt der "Buewald" wegen der vielen Buchen, die da wuchsen. Über die Herkunft des Kreuzes aber wird von alten Leuten in der Umgegend folgende Sage erzählt. Damals lebten auf dem Buchl bei Unterjoch zwei Brüder, beide überaus groß und von unbändiger Kraft. Da begab es sich einmal, daß beide in dunkler Nacht über Feld waren, und zwar kam der eine von Oberjoch herab gegen Hindelang zugegangen, der andere aber war auf dem Wege nach Oberdorf; indes wußte keiner vom andern. Nun tat der eine einen Juchzer, wie früher die Burschen damit einander zum "Hosenlupf" (schweiz.: Ringkampf) aufzufordern pflegten. Der andere gab sogleich an, und so wiederholten sie dies, bis sie einander nahegekommen waren. Ohne einander in der Dunkelheit zu erkennen, begannen sie nun zu ringen, und ob ihrer Riesenkraft wurde der Kampf immer hitziger und hitziger, und es kam zuletzt so weit, daß der eine erschlagen niederfiel. Erst nach der grausigen Tat erkannte der Sieger bei näherer Besichtigung zu seinem Entsetzen, daß er seinen leiblichen Bruder getötet hatte. Voll Reue und Angst getraute er sich nun nicht mehr heimzukehren, sondern floh, von Gewissensbissen verfolgt, fort in die weite Welt. Den Erschlagenen aber fand man am Morgen, und zur Sühne für den gräßlichen Brudermord errichtete man das steinerne Kreuz. Einige fügen nun noch hinzu, der Überlebende habe lange nicht gewußt, wohin er fliehen solle. Dann habe er sich aber erinnert, daß früher öfters ein kleines Männle aus Venedig auf den Buchl gekommen und in seinem elterlichen Hause jedesmal Übernacht geblieben sei. Zu dem wollte er fliehen und wanderte über das Gebirge bis nach Venedig. Als er in der großen Stadt eines Morgens ankam, machte gerade ein altes Männle in einem großen Hause die Fensterläden auf und rief ihm auf einmal zu: "Grüß Gott, Buchler, was bringt denn dich nach Venedig?" Da erkannte der Buchler erst das Männchen als jenes, das immer auf den Buchl gekommen und dort übernacht geblieben war, und jetzt mußte er einkehren und von seiner Reise erzählen. Als der Alte dann von der Bluttat hörte, derentwegen der Buchler nach Venedig geflohen, und daß der Mord nicht absichtlich begangen worden, nahm er sich des Flüchtlings an und behielt ihn im Hause. Mit der Zeit erfuhr der Buchler, daß das Männle ein Goldsucher war, daß es beim Buchl immer Gold geholt hatte und davon so reich geworden sei. Es war mit ihm immer freundlich, und da fragte es ihn eines Tages, ob er denn nicht seine Mutter einmal wieder sehen möchte. O ja, recht gern! Da brachte der Alte einen Spiegel daher; das war ein venedischer Spiegel, und da mußte er hineinblicken, und nun sah er darin deutlich den Buchl, das Heimathaus und auch, wie die Mutter in einem roten Unterrock am Herde stand und kochte. Dann zeigte das Männle ihm mit dem Spiegel auch die Stelle, wo es immer Gold geholt und wo es noch Pickel und Schaufel liegen habe, und jetzt sah er, daß das ein Platz im Hieße Loch sei, und sah unter einem Stock Pickel und Schaufel liegen. "Gut," sagte der Venediger, "dahin gehst du jetzt und gräbst dir selber nach Belieben Gold! Damit kaufst du dich dann von der Strafe los, kaufst dir ein Anwesen und ein Haus und führst ein stilles Leben." - Da litt es den Buchler nicht mehr in Venedig, und er kehrte zurück in die Heimat. Aber alles Suchen nach der Goldgrube sei vergeblich gewesen, und was dann aus ihm geworden, weiß man nicht mehr.


Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 269, S. 276ff.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.