75. Das "Nachtvolk" zu Tiefenbach.

In Tiefenbach hörte einmal ein Weib das "Nachtvolk" kommen, und weil die Musik da gar so wunderschön "iechte" und immer lauter und vernehmlicher wurde, hätte sie ums Leben gern einmal erfahren, was denn da alles vorbeigehe. Sich hinauszubegeben, ja selbst bloß zum Fenster hinauszublicken, getraute sie sich aber nicht; denn sie wußte wohl, daß es da keinen Vorwitz und Frevel leide, und so wollte sie nur zu einem "Neberloch" hinaussehen. Wie nun das Nachtvolk vorbeizog, kam es ihr auf einmal vor, als würde jemand von dem Zuge ein Zäpflein in das Loch stecken, damit sie nichts mehr sehen könne.

Wie sie aber den Kopf nun wegwandte, bemerkte sie mit Schrecken, daß sie an dem Auge stockblind sei. Was sie nun auch dagegen tat, kein Mittel wollte anschlagen, und kein Doktor konnte helfen. Da riet endlich jemand dem Weibe, sie solle übers Jahr wieder genau zur nämlichen Zeit zu dem Neberloch hinausblicken. Sie befolgte das, und da kam ordentlich das Nachtvolk wieder, und beim Vorbeiziehen hörte sie eine Stimme: "Da hab ich feant (voriges Jahr) ein Zäpflein eingesteckt und will es doch wieder mitnehmen." Sogleich war das Neberloch wieder offen, und auch das Weib sah von dem Augenblick an an dem Auge wieder wie zuvor.

Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 75, S. 79.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.