212. Christus und Petrus in Lindau.
Am späten Abend kamen Christus und Petrus auf ihrer Wanderung nach
Lindau am Bodensee, suchten eine Herberge, wurden aber von den Bürgern
der Stadt überall abgewiesen. Vor der Stadt wohnte ein armer Taglöhner
mit seinem Weibe in einem kleinen Häuschen. Diese nahmen die Gäste
willig auf, setzten ihnen Speise, wie sie eben versehen waren, vor und
bereiteten ihnen ein Lager von Stroh. Als Christus und Petrus das spärliche
Mahl genossen hatten, gaben sie sich den armen Leuten zu erkennen, und
der Herr sprach: "Weil ihr so gute Leute seid, so dürft ihr
einen Wunsch aussprechen, der wird euch gewährt werden." Sie
besannen sich nicht lange und meinten, wenn sie um ihre Hütte nur
ein Gärtchen und dabei ein kleines Gütchen hätten, wie
es die reichen Bürger der Stadt im Großen haben! "Euer
Wunsch sei gewährt!" sprach der Herr. Ehe noch die armen Leute
aus dem Schlafe erwacht waren, hatten die Gäste ihre Wanderung am
frühen Morgen angetreten. Als der Taglöhner und sein Weib erwachten,
war ihr erstes, sich vor ihrer Haustüre umzusehen. Wie groß
war ihr Staunen und ihre Freude, als sie um ihre Hütte einen schönen
Garten mit fruchttragenden Bäumen und dabei Wiesen und Äcker
mit schweren Ähren erblickten! Eben kam einer der reichen Bürger
der Stadt, welchem sie alles erzählten. Dieser eilte in die Stadt
zurück; der Rat versammelte sich und faßte den Beschluß,
den göttlichen Wanderern eine Deputation nachzusenden und den Herrn
auch um die Erfüllung eines Wunsches zu bitten. Als die Abgeordneten
die Wanderer erreicht hatten, machten sie viele Bücklinge, brachten
Entschuldigungen vor und beteuerten, daß sie ihnen gewiß Nachtquartier
gegeben haben würden, wenn sie gewußt hätten, wer sie
wären. Ihre Gegend sei schön und fruchtbar; wenn sie nur auch
Reben hätten! "Sie seien euch gewährt!" sprach der
Herr. Als die Abgeordneten mit vielen Bücklingen ihren Rückweg
angetreten hatten, fragte Petrus unwillig: "Herr, wie magst du den
groben Kerln, die uns kein Nachtlager gönnten, Wein wachsen lassen?"
Der Herr aber schmunzelte vor sich hin und sprach: "Beruhige dich
nur, Peter, und gib dich zufrieden! Ich habe den Lindauern zwar Reben
versprochen, und so wird ihnen Wein wachsen; aber frage mich nur nicht,
was für einer!" Bekanntlich ist der Seewein etwas sauer.
Quelle: Allgäuer
Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter
des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München
1914, Nr. 212, S. 217 - 218.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, März 2005.