196. Die Geschichte von dem Kemptener Stadttor und der Kemptener Meise.

Bekanntlich hat in Kempten die Altstadt gegen die Neustadt kein Tor, sondern nur eine offene Lucke, worein die Stiftler ohne Aufhalt kommen können.

Das schreibt sich aber von der Zeit her, sagt man, wo die Geiß den Torriegel abgefressen. Und das ist so zugegangen: Bei einem plötzlichen Überfalle der Stiftler steckte der Turner, da er den Torriegel vergebens suchte, einen Dorschen in die Klammer. Während er aber nun die Städter zusammenblasen wollte, kam eine Geiß herbei und fraß den Dorschen ab, so daß das Tor angelweit aufsprang und dem Feind den Eingang öffnete. Das Tor wurde sofort niedergerissen und ist nicht mehr erbaut worden. Seit der Zeit besteht auch zwischen den Stiftlern und Städtlern Fried' und Einigkeit. - Also erzählt man; ob's auch so in der Kemptener Chronik stehe, kann ich nicht sagen, ebenso wie das Geschichtchen von der Kemptener Meise.

Dem Bürgermeister war nämlich einmal seine Meise ausgekommen. Da ist allsogleich der Befehl ergangen, man solle alle Tore schließen, und die Bürger mußten alle Straßen und Häuser durchsuchen, ob die Meise nicht zu finden sei. Und noch heutigestags, wenn ein Kemptener einen Winkel durchsucht, sagt man, daß er die Meise fangen wolle.

Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 196, S. 200.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, März 2005.