236. Das Höllweible bei Oberjoch.

Von Hindelang nach Oberjoch und Tirol führt die Staatsstraße an den steilen Gehängen des Wildbachtobels und an der sogenannten Hölle vorbei. Hier sind an einer Stelle noch spärliche Mauerüberreste von einem ehemaligen Wachtgebäude sichtbar, und man heißt es da heute noch "bei der Wacht". In der Nabe davon gesellte sich früher den Leuten, die nachts des Weges kamen, nicht selten ein kleines, altes Weible zu, begleitete sie eine Zeit lang, schritt in ganz geringem Abstande hinter ihnen her und sprang ihnen wohl auch auf den Rücken, und dann mußte man es bis zum "Bild" tragen, das ist bis zu der kleinen Feldkapelle eine gute Strecke weiter oberhalb. Dabei machte es sich immer schwerer, daß viele es kaum mehr zu verschleppen vermochten, bis sie endlich bei der Kapelle mit einem Schlag sich der Last entledigt fühlten.

Man nannte das Weible insgemein das "Höll-" oder "Jochweible" oder auch die "Joch- oder "Höllhexe", und viele fürchteten sich nicht wenig, wenn sie da des Nachts vorbei mußten. Eigen war übrigens, daß das Weible, wenn es um die Wege war, nicht allen vorbeikommenden Leuten gleichmäßig sichtbar war; denn oft geschah es, daß, wenn mehrere beisammen waren, es nur die einen sahen, die andern aber nicht. Wahrscheinlich gewahrten es nur solche, die in einem besonderen Zeichen geboren waren. So kehrten auch einmal zwei Unterjöchler um die Mitternacht von Hindelang heim, und wie sie zur Wacht kamen und keiner an was Ungerades dachte, erblickte der eine plötzlich das Weible vor sich. Es kam zu ihm heran, drohte ihm heftig mit aufgehobenem Zeigefinger und setzte sich ihm dann auf die Schultern. Er mußte ob der immer schwerer werdenden Last fürchterlich schleppen, daß er fast nicht mehr vorwärts kam. Der Begleiter aber hatte von allem nicht das Geringste gesehen und merkte nur, daß sein Kamerad ein ums anderemal stöhnte und sich abquälte und auch kein Wort mehr sprach bis zum Bildstöckle, wo er, seiner unheimlichen Bürde los geworden, dann ganz verstört alles erzählte.

Auch in neuerer Zeit noch soll es einmal sich in seidenrauschendem Gewande einem Jäger, als er auf die Pirsche ging, zugesellt haben. Da sei es dem aber bald verleidet, und so habe er es fruetig über den Weg hinunter geschlagen.


Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 236, S. 245f.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.