249. Hexen als Gemsen.

Als ein Wildschütze von Bach im Lechtale einmal bei seiner Jagd auf die "Scharte" kam, bemerkte er auf einem nahen Schrofen ein Rudel Gemsen, deren er 24 zählte. Wie er sich nun ihnen näherte, sprangen alle wild über Fels und Stein davon bis auf eine, welche auf ihrem Platze verblieb und offenbar nicht fortkonnte. Da eilte er so rasch wie möglich hinzu und entdeckte nun, daß die Gemse, die auf dem Felsen lag und ihn ängstlich und kläglich anblickte, die Füße mit einem Stricke zusammengebunden hatte. Das kam ihm aber doch höchst rätselhaft und merkwürdig vor, und so nahm er vor allem das Messer heraus um den Strick aufzuschneiden. Kaum hatte er aber die Fesseln gelöst, so entfloh die Gemse schleunigst über Berg und Tal. Ganz verdutzt und überrascht stand nun der Wilderer da und wußte für den ersten Augenblick nicht, was er aus dem Vorfall machen sollte, hielt dann aber dafür, daß das Ganze ein Hexenwerk sei, und ging heim.

Als der Mann ein Jahr darauf in die Schweiz wanderte und dort einmal in einem Wirtshause einkehrte, wurde er sogleich von der Wirtin erkannt und freundlich aufgenommen. Verwundert fragte er, woher sie ihn denn kenne. "Warum sollte ich dich nicht kennen?" sagte die Frau; "du hast mich ja schon einmal frei gemacht," und nun erinnerte sie ihn an sein Erlebnis auf der Scharte, wo er einer Gemse die Fesseln gelöst habe. Das sei sie selbst gewesen, und zur Bekräftigung ihrer Aussage holte sie nun das Messer herein, mit dem er damals ihre Fesseln zerschnitten habe, und das er nun richtig als das seine wiedererkannte. Er erfuhr dann auch, daß die übrigen 23 Gemsen damals hatten ein "Unwetter anrichten" wollen, daß sie das aber nicht zugelassen habe, wofür ihr von den übrigen die Füße gefesselt worden seien. Durch ihn sei sie dann erlöst worden.


Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 249, S. 260.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.