76. Das Muetes und der Geiger von Kranzegg.

Es find wohl schon hundert Jahre her, da sind zwei Brüder aus Kranzegg, die als Maurer in die Fremde gezogen waren, in der Schweiz in Arbeit gestanden und saßen einmal an einem schönen Sommerabende mit anderen Kameraden im Freien vor dem Hause. Wie sie so miteinander diskurier-ten, hörten sie auf einmal das Muetes kommen, und zwar vernahmen sie so liebliche Musik, wie sie es schöner alle ihrer Lebtag nie gehört hatten. Am meisten hingerissen von derselben ward aber der eine von den Kranzegger Maurern, der nämlich selbst ein guter Musikant war und auf der Geige gar trefflich und schön aufspielen konnte. Da vermochte er sich nicht mehr zu halten und lief schnell ins Haus, seine Geige, die er immer in die Fremde mitgenommen, zu holen, damit er die wundervollen Weisen, die er hörte, auf seinem Instrumente nachspielen könne. Er geigte aber nicht lange, so erfaßte ihn das Muetes, hob ihn in die Lüfte und nahm ihn fort. Nach kurzem kam "einer von den Luftgeistern" zu ihm her mit einem großen Buch und sagte, nun müsse er sich eine Ader öffnen und mit seinem Blute seinen Namen in das Buch einschreiben. Wenn er das nicht täte, so käme er nie mehr zu seinem Bruder, auch nie mehr zu den Seinen nach Kranzegg, sondern müsse ewig mit ihnen herumziehen. Da war der arme Geiger in arger Not und Bedrängnis, denn was es auf sich habe, den Namen mit eigenem Blute einzuschreiben, war ihm wohl klar. Er konnte es aber auch fast nicht über sich bringen die Seinen nie mehr zu sehen. So wußte er lange nicht Rat, wozu sich entscheiden. Endlich gab er scheinbar nach, öffnete eine Ader, wie verlangt ward, tauchte die Feder im Blute ein und fing an zu schreiben, worüber sich der Luftgeist sehr befriedigt zeigte. Wie dieser aber, nachdem der Schreibende beendet hatte, in dem Buche nachsah, stand da wohl ein Name drin, aber nicht der des Geigers, sondern der höchste, den es gibt, nämlich der Name "Jesus von Nazareth". Kaum hatten "die Luftteufel" diesen heiligsten Namen zu Gesicht bekommen, so stoben sie alle wild auseinander; denn diesen Namen konnten sie nicht vertragen. Der Geiger aber fiel herab auf einen alten Birnbaum, mehr als hundert Stunden weit drin in Frankreich. Hier mußte er warten, bis der Morgen kam und er herabsteigen konnte. Dann hatte er aber noch gar viele Mühen und Strapazen, bis er wieder zurückfand und wieder zu seinem Bruder kam.

Quelle: Allgäuer Sagen, Aus K. A. Reisers "Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus" ausgewählt von Hulda Eggart, Kempten und München 1914, Nr. 76, S. 79 - 81.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Franziska Meister, Februar 2005.