Die drei Aufgaben

Einst lebte in einer großen Stadt ein mächtiger König, welcher eine einzige Tochter hatte. Als diese das achtzehnte Jahr erreicht und noch kein Bräutigam sich eingefunden hatte, dachte der König, es wäre am besten, die Tochter irgendeinem Mann zu geben, der die Aufgaben löst, welche der König ihm geben würde.

Zu dem Zweck ließ der König den in seiner Residenzstadt befindlichen, wegen der ungeheuren Größe und Höhe berühmten Turm mit Fahnen schmücken. Dieser Turm war so hoch, dass ihn alle Untertanen sehen konnten.

Die Leute wussten anfangs nicht, was die Fahnen an dem alten Turm zu bedeuten hätten, und erkundigten sich darnach. Da zeigten auch die drei Söhne eines Bauern Lust, ihr Glück zu versuchen.

Matthias, Jakob und Hans machten sich auf den Weg, und als sie durch den Garten ihres Vaters gingen, sagte der älteste zum jüngsten, etwas blöden Bruder: »Mach die Tür zu.«

Dieser verstand aber: »Nimm die Tür.« Hans hob die Tür aus den Angeln und trug sie auf seinem Rücken.

Die beiden anderen kümmerten sich nicht viel um ihren jüngsten Bruder Hans und achteten nicht einmal darauf, dass er die Tür auf dem Rücken trug. Als die Nacht heranbrach, wollten sie sich ein Nachtlager suchen und beschlossen nach einigen Beratungen, auf einen Baum zu steigen, damit sie von keinem wilden Tier angefallen würden. Jetzt erst sahen die Brüder, dass Hans die Tür mitgetragen hatte, zankten ihn darüber aus und befahlen, er möge die Tür nun auch auf den Baum mitnehmen, damit keine menschliche Spur auf dem Boden sichtbar wäre. Und wirklich schoben sie so lange, bis auch die Tür oben war.

Die Brüder legten sich nun zurecht und schliefen bald ein. Sie wurden aber durch einige Schüsse aufgeweckt, und zu ihrem großen Schrecken bemerkten sie einige Räuber, welche sich dem Baum näherten und unterhalb desselben sich lagerten. Obgleich sich die Brüder ganz ruhig verhielten, bemerkten die Räuber doch bald, dass jemand oben war, und luden ihre Gewehre, um sie herunterzuschießen. Als Hans diese Vorbereitungen sah, wurde ihm ganz unheimlich zumute, und in seiner Angst ließ er die Tür fallen, die in ihrem Fall die Räuber erschlug.

Die zwei älteren Brüder sahen nun ein, dass sie durch die Dummheit von Hans gerettet waren, und betrugen sich freundlicher gegen ihn. Unsere drei Wanderer blieben die Nacht hindurch auf dem Baum sitzen und erwarteten den Tagesanbruch, um ihren Weg fortsetzen zu können.

Kaum fing der Morgen an zu grauen, so stiegen die drei Brüder vom Baum herab und setzten singend ihren Weg fort. Nach Verlauf einiger Stunden waren sie vor dem königlichen Hof angelangt, baten um Einlass und sagten, warum sie gekommen seien.

Da sagte der König: »Zwei von euch können weitergehen, da ich nur eine Tochter habe, und diese braucht nur einen Bräutigam.«

Keiner wollte weichen, und es kam sogar zum Streit, bis endlich der König befahl, der Älteste solle bleiben.

Der König fragte zuerst den Matthias über seine Verhältnisse aus und gab ihm dann folgende Aufgabe zu lösen: »Du sollst auf einem goldenen Schiff gefahren kommen, nicht auf dem Wasser, sondern auf dem Land, doch darf es keine Räder haben, sondern muss durch Segel in der Luft fortbewegt werden.«

Als Matthias dies angehört hatte, ging er traurig nach Hause, und zwar ganz allein; die übrigen Brüder waren schon vorausgegangen.

Am anderen Tag ging Matthias in den Wald, und in der Hoffnung, dass der König die Aufgabe als gelöst betrachten würde, wenn das Schiff aus Holz verfertigt wäre, schlug er einen schönen Baum um und arbeitete Tag und Nacht an dem Schiff. Am dritten Tag fühlte er sich sehr matt und konnte sich des Schlafes nicht erwehren. Als er aufwachte, kam ein alter Mann zu ihm und bat um ein Stück Brot. Matthias fuhr ihn rau an und wies ihn ab.

Der Mann entfernte sich und sprach: »Matthias, Matthias, du wirst es bereuen.« Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so war er verschwunden, und der Baum, der beinahe die Form eines Schiffes gehabt hatte, stand in seiner früheren Pracht wieder vor dem erstaunten Matthias.

Allmählich ging sein Erstaunen in Zorn über, weil seine dreitägige Arbeit umsonst war. Er ging nach Hause und erzählte das Unglück seinen Eltern, welche ihm aber darüber keine Aufklärung verschaffen konnten. Die Frist war vorüber, und Matthias war noch zu Hause. Zwei Tage nach der verflossenen Frist kamen Boten, und traurig ging Matthias ins königliche Schloss. Dort konnte er sich nicht rechtfertigen und wurde zum Tode verurteilt.

Als dies seine Eltern erfuhren, wurden sie sehr betrübt und verboten den zwei jüngeren Brüdern, um die Königstochter zu werben. Das wollten aber die Brüder nicht, vielmehr ging der zweite in einen dichten Wald und suchte einen schönen Stamm.

Als er diesen gefunden hatte, fing er wie sein Bruder an, den Stamm zu einem Schiff zuzuhauen. Als er ermüdet einschlief, kam ein Weib, weckte den Schlafenden auf und bat um Geld. Jakob fuhr das Weib barsch an.

Es ging weg und sprach: »Baum, steh auf!« und gleich stand der Baum in seiner vollen Blüte wieder da. - Dem Jakob erging es also nicht besser als seinem Bruder, weil er seine Aufgabe nicht gelöst hatte.

Nun kam die Reihe an den jüngsten Bruder. Hans ging in den Wald, hieb einen schönen Baum um und zimmerte daraus ein Schiff: Singend vollendete er den Bau des Schiffes, und als er fertig war, kam zu ihm ein hässliches altes Weib und verlangte einen Kuss. Hans war nicht faul, umarmte das Weib und küsste es nicht nur einmal, sondern mehrmals.

Hierauf sagte das Weib zu ihm: »Dir ist der Sieg gelungen.« Sie sprach dann einiges über den Bau des Schiffes, und siehe da: plötzlich war das Holz in reines Gold verwandelt und setzte sich sogleich in Bewegung. Das Schiff trug Hans auf einen großen Berg namens Kravihora; hier blieb es stehen und konnte nicht weiter. Hans wartete, bis das Schiff sich wieder in Bewegung setzen würde. Das dauerte ihm aber zu lange, denn das Brot, welches ihm seine Mutter gegeben hatte, war bereits verzehrt.

Als auch der dritte Tag vergangen und das Schiff noch nicht in Bewegung war, rief er verzweifelt: »Weib, komm zu mir!« Auf einmal hörte er einen Brunnen rauschen; er ging zu demselben und sprach: »Liebes Brünnlein, hilf mir!« Und plötzlich las Hans auf der Oberfläche des Brünnleins die Worte: Nicht weit von mir liegt eine Pfeife, diese nimm auf dein Schiff.

Er suchte die Pfeife und fand sie auch wirklich, ging in sein Schiff und fing an zu pfeifen.

Da erschien ein Mann, welcher fragte: »Was willst du?« Hans erzählte ihm sein Unglück, worauf ihm der Mann sagte, wenn er dringend Wasser brauche, möchte er nur pfeifen, und er würde kommen und ihm welches verschaffen.

Bald darauf setzte sich das Schiff in Bewegung und trug ihn auf ein Feld. Hier blieb es stehen. Da kam ein Jäger und gab Hans eine Trompete mit der Bemerkung, nur zu blasen, wenn er irgend etwas brauche, was ein Jäger zu schaffen imstande wäre. Hierauf setzte sich das Schiff wieder in Bewegung und trug ihn zum Schloss des Königs.

Der König sah mit Staunen den Mann und das Schiff an, welches so trefflich die Lüfte durchschnitt. Hans trat aus dem Schiff, und der König lud ihn zu einem fröhlichen Mahl ein. Darauf bat Hans den König um die zweite Aufgabe, und der König erwiderte: »Hol mir in der Zeit, während du dich von deinem Sessel erhebst, bis du aufrecht stehst, einen Krug Wasser!«

Hans erinnerte sich seiner Pfeife, machte während dieser Zeit einen Pfiff, und der Krug stand in der gewünschten Zeit auf dem Tisch.

Die dritte Aufgabe war: Alle Schafe, die auf Gottes Erdboden sind, zusammenzurufen und sie dem König zu zeigen. Hans blies in seine Trompete, und plötzlich waren eine Unzahl Schafe da, und zwar auch alle jene, welche der König in anderen Ländern besaß.

Am nächsten Tag sollte nun die Trauung stattfinden. Die Königstochter wollte den Hans aber nicht als ihren Gemahl anerkennen und bat den König, ihm noch einige Aufgaben zu geben. Dies wollte aber der König nicht, denn er sagte: »Hans hat seine drei Aufgaben gelöst.«

Es half also nichts, die Königstochter musste seine Frau werden und hat mit Hans noch lange und zufrieden gelebt.

Quelle: Theodor Vernaleken, Kinder- und Hausmärchen in den Alpenländern, Wien 1863.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Sabine Strasser, März 2006.
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