SAGEN.at >> Informationen, Quellen, Links >> Dokumentation >> Volkskundliche Berichte aus Russland |
|
Kargopolje, Teil 3 - Das Tonwunder von Kargopol. Das Kargopoler Spielzeug. Kargopolje, 3 - Das Tonwunder von Kargopol. Das Kargopoler Spielzeug, Teil 1 Das Kargopoler Land war immer durch sein Kunsthandwerk bekannt. Das Handwerk erlebte im 16.-17. Jahrhundert seine Blütezeit, entwickelte sich aber auch in nachfolgenden Jahrhunderten weiter. Hier arbeiteten Zimmerer, Töpfer, Weber, Ikonenmaler, Kargopol war auch ein Zentrum der Goldstickerei. Was aber den Kargopoler Handwerkern Weltruf gebracht hat, ist das berühmte Kargopoler Tonspielzeug. Die Anfänge der traditionellen Töpferei in Kargopolje gehen auf das 11.-13. Jahrhundert zurück, die Zeit der slawischen Besiedlung der Region. In dieser Zeit erscheint zum ersten Mal das auf der Töpferscheibe angefertigte Tongeschirr. Es gibt leider nicht viele Informationen über die Kargopoler Töpferei bis zum 19. Jahrhundert. Während der archäologischen Ausgrabungen auf dem Hauptplatz von Kargopol wurden viele Bruchstücke des mittelalterlichen Tongeschirrs gefunden, die den Massenumfang und ein hohes Niveau der Keramikproduktion bewiesen. Die vorhandenen Angaben geben eine Vorstellung von der Entwicklung der Töpferei in Kargopolje im 19. – bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Die geschichtlich-landeskundlichen Publikationen und statistische Daten nennen 8 Bezirke von Kargopolje, wo sich die Menschen mit der Töpferei beschäftigten. Im Jahre 1902 zählte man 43 Töpfer, die meisten von ihnen lebten in der Umgebung der Siedlung Petschnikowo (Dörfer Grinjowo, Toropowo, Ognjowo u.a.). Im Sommer arbeiteten die Bauern auf dem Feld und von Oktober bis in den Frühling fertigten sie Tonwaren aus rotem Ton an, der in dieser Gegend in großen Mengen zu finden war. Hauptsächlich produzierte man Tongeschirr daraus – Töpfe, Teller, Milchnäpfe. Im Winter könnte ein Töpfer 200 bis 800 Töpfe herstellen, dabei waren sowohl Männer als auch Frauen tätig, die Kinder leisteten ihre Hilfe ab 8-9 Jahren. Das Kargopoler Tongeschirr war außerhalb der Region bekannt, es bestand eine große Nachfrage nach dieser Ware auf den Märkten anderer Städte und Dörfer, man brachte es sogar nach Archangelsk. Ein großer Tonwarenhandel war in Kargopol selbst. Aus dem übrig gebliebenen Ton machten die Töpfer Spielzeuge, ohne auf sie einen besonderen Wert zu legen. Einfache Figuren von Pferden, Menschen kosteten fast nichts und man bastelte sie mehr aus Spaß, als zum Nebenverdienst. Nach dem Brennen wurden die Spielzeuge in eine dicke Mehllösung getaucht, abgebranntes Mehl hat auf der hellen Oberfläche der Ware dunkles Spitzenmuster hinterlassen. Diese einfachen Spielzeuge mit durchgekratztem achaischem Muster erinnerten eher an die Werke der Steinzeit. Daneben produzierte man noch teure glasierte Tonwaren. Die fertige Ware wurde mit Teer bedeckt und mit Bleipulver bestreut. Während des Brennens wurde das Bleioxid eingeschmolzen und das Geschirr bekam eine schöne grünliche Glasur. Nach der Revolution 1917 und mit der Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen im Lande ist die Nachfrage für die Tonwaren wesentlich zurückgegangen. Als Folge hat man mit diesem Handwerk Anfang der 1930-er Jahre allmählich aufgehört. Nur einige Töpfer setzten fort, Geschirr und Spielzeuge aus Ton anzufertigen. Einer von denen war Iwan Drushinin (1887-1949) aus dem Dorf Grinjowo (17 km von Kargopol entfernt). Er war der erste Töpfermeister, dessen Spielzeuge von den Museen gekauft wurden. Sie gelten heute als „klassische“ Kargopoler Spielzeuge. Es waren meistens einzelne Figuren von Männern und Frauen, grob geformt, mit flachen Gesichtern. Sie hatten dezente Farben, denn Kalk, Ofenruß und farbiger Ton war alles, was der Handwerker zur Verfügung hatte. In den 1950-er Jahren beschäftigte sich mit der Anfertigung des Tonspielzeuges nur eine Frau – Uljana Babkina (1888-1977). Ihr haben wir zu verdanken, dass dieses traditionelle Volkshandwerk heute noch existiert. Mit der Zeit wurde ihre Arbeit bekannt und anerkannt und ein großes Interesse entstand für die Spielzeuge von Uljana. Sie hatte Besuch von Touristen, Kunstwissenschaftlern, Museumsmitarbeitern. Alle wollten ihre Spielzeuge sehen und auch kaufen, sie war aber so gutherzig, dass sie trotz ihrer Armut nur wenige verkaufte, viele aber verschenkte.
Inzwischen sind die Einwohner von Grinjowo in eine größere Siedlung umgezogen und im Laufe von einigen Jahren blieb Uljana der einzige Mensch im ausgestorbenen Dorf. An einem der kalten Wintertage wurde sie sehr krank, konnte den Ofen nicht anheizen und verbrachte einige Tage liegend auf einer Bank im kalten Raum. Nach drei Tagen wurde sie von den Menschen aus einem anderen Dorf in ihrem Haus gefunden, sie brachten sie in ein Krankenhaus in Kargopol. Ihr letztes Lebensjahr verlief in Kargopol, wo sie bei entfernten Verwandten wohnte. Sie konnte keine Spielzeuge mehr machen, ertrug das aber sehr schwer, denn es war der Sinn ihres ganzen Lebens. Die ersten Spielzeuge für das Museum wurden bei Uljana 1947 gekauft, und 1958 brachte sie eine Kunsthistorikerin zur Weltausstellung in Brüssel mit, wo die Arbeit von Uljana Babkina mit dem ersten Diplom ausgezeichnet wurde. Auf Anregung des Künstlerverbandes der RSFSR wurde in Kargopol 1967 eine Töpferinnung gegründet. Bis heute wundert man sich, wie es der Leiter Alexander Shewelew (1910-1980, stammte aus einer Töpferfamilie) geschafft hat, mit minimalen Möglichkeiten die Produktion in Gang zu bringen. Seine Spielzeuge wurden schnell allgemein beliebt und bei Touristen und Gästen der Stadt sehr gefragt. Seit 1993 funktioniert in Kargopol das Zentrum der Volkshandwerke “Bereginja”. Dort kann man auch selbst probieren, das Kargopoler Speilzeug aus Ton zu machen.
Im Zentrum der Volkshandwerke „Bereginja“.
Das Zentrum beherbergt auch ein kleines Tonspielzeug-Museum und einen Souvenirladen.
Das moderne Kargopoler Spielzeug wird sorgfältiger geformt, die Oberfläche ist glatt, die Farben sind vielfältiger. Schöne ornamentale Muster verleihen den Figuren ein besonders schönes Aussehen. Dabei verliert aber das Spielzeug seine Naivität, was der Hauptreiz des alten Bauernspielzeuges war. Das Kargopoler Spielzeug im Souvenirladen von „Bereginja“ In der Bemalung des modernes Spielzeuges wurde die traditionelle Symbolik beibehalten: Kreis und Kreuz in verschiedenen Kombinationen als Sonnen-Zeichen (Symbole der Sonne), Zeichen der Erde, des Feuers, des Wassers, des besähten Feldes, der Fruchtbarkeit. Zwar meinen einige Kunsthistoriker, diese Zeichen haben nichts mit den archaischen Symbolen zu tun, sondern sind nichts anderes als stilisierte Darstellung der traditionellen Stickerei.
Bereginja – das Zeichen der Erde. Solche Frauenfiguren mit nackter Brust als Symbol der Fruchtbarkeit und zum Himmel gehobenen Händen, in denen zwei Vögel sitzen, sind Beregini – Verkörperung der Mutter-Erde. Sie betet um die Sonne und Wärme, die sie für ihre Fruchtbarkeit so braucht. Und die Vögel treten hier als Frühlingsboten auf. Mit ihrem lustigen Gezwitscher treiben sie die bösen Mächte von der Erde weg und bringen Freude, Licht und Glück.
Auch das ist eine Bereginja. Modernes Spielzeug aus Kargopol.
Diese geheimnisvolle Gestalt ist zu uns aus alten Volkslegenden und Sagen gekommen. Polkan ist der große und gute Bogatyr*) aus alten russischen Sagen, er schützt die Menschen vor den bösen Mächten. Er ist halb ein braver General und halb ein Roß, daher vielleicht der Name – Polkan = polu + kon' (halb+Roß). Er hat ein rundes Gesicht mit großem Bart, trägt Epauletten. Auf seiner Brust hat er das Zeichen der Sonne. *) Bogatyri (Sg. Bogatyr) – in Russland besonders kräftige Männer, Helden, die durch ihre Heldentaten im ganzen Lande berühmt und von allen verehrt waren. Polkan ist uns heute nur dank Uljana Babkina bekannt, die als einzige diese Gestalt in ihrem Schaffen benutzte. Sie nannte ihn Kitowras (vgl. „Kentaurus“ aus der griechischen Mythologie) und auf die Frage „Woher kennen Sie diese Figur?“ antwortete sie: „Mein Vater machte es so, und ich mache es so“. Das Hauptthema beim Kargopoler Spielzeug bleibt jedoch das Dorf und das Bauernleben. Die Menschenfiguren werden bei verschiedenen Arbeiten dargestellt. Die Bäuerinnen sind sehr beschäftigt: sie nähen und sticken, spinnen, waschen Kinder, holen Holz und Wasser, füttern Haustiere…
Frauen beim Nähen und Sticken. Museum des Kargopoler Spielzeuges im Zentrum der Volkshandwerke „Bereginja“.
eine Frau füttert Hühner. Museum des Kargopoler Spielzeuges im Zentrum der Volkshandwerke „Bereginja“. Kargopolje, 3 - Das Tonwunder von Kargopol. Das Kargopoler Spielzeug, Teil 1 Übersicht: Volkskundliche Berichte aus Russland Alle Fotos: © Oksana Fedotova Für Fragen und Vorschläge benutzen Sie ausschliesslich das Thema Russland in unserem Forum.
| |
|