DIE BESCHNEITE FRAU

Zuhinterst im Talgrunde Frutigen, zwischen Öschinen und dem Breithorn, erhebt sich die über 11.000 Fuß hohe Frau, deren Gipfel mit einem Mantel von ewigem Schnee bedeckt sind.

In Frutigen geht die Sage, daß dieser mächtige Koloß einst eine grasreiche Weide gewesen sei. Mutern (der Erzähler sagte, Mutern sei dem Rüblikraut ähnlich) und noch andere vortreffliche Alpenkräuter sollen auf diesem Berg in Menge gewachsen sein. Die Kühe mußten sogar dreimal des Tages gemolken werden. Der Berg soll einer blinden Frau gehört haben, die mit dem Sohne, dem Gesinde und der Herde jeden Frühling aufs neue die Alpe bezog.

Der Sohn lebte in Unmäßigkeit und in verbotenem Umgang mit einer Jungfrau; er achtete nicht der mütterlichen Verweise, vielmehr mißhandelte er die blinde Mutter. Deshalb sprach sie den Fluch aus: der Berg solle mit Eis bedeckt werden; die beste Kuh und der Sohn sollen ewig hierher verbannt sein. Beides erfolgte und noch oft hört man das Gebrüll der Kuh und ein trübes Johlen des Sohnes. Wenn jemand so glücklich ist, die Kuh an einem Karfreitag vor Sonnenaufgang auszumelken, so soll die vorige Schönheit des Berges sich wieder einstellen. Noch ist es niemandem gänzlich gelungen, weil die Sonne immer eher heraufstieg, als man mit dem Melken fertig war. Jeder, der dieses Wagnis unternahm, aber nicht beendigen konnte, ward die Beute eines Ungeheuers.

(Mündlich von einem Berner Bauern)

Quelle: Theodor Vernaleken, Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858