423. Das Tuutier.

Es ist mir, als sei es gestern gewesen, daß der alte Nef, unser Nachbar, vom Tuutier erzählte. Jeden Abend kam er zu uns "zu Spinni"; dann setzte er sich an den Tisch, holte sein Pfeifchen hervor, an dessen Beißer er einen Hosenknopf angebracht hatte, damit er es mit seinem zahnlosen Munde besser halten konnte; die Großmutter setzte sich zum Spinnrad, die Mutter flickte die Kleider, wir alle lauschten den Worten des Alten.

Es seien einst sieben böse Buben gewesen, diese seien verwünscht worden und müssen nun zur Strafe in sieben Gestalten und siebenerlei Geschrei an vielen Orten unserer Gegend als Tuutier geisten. Dieses hat die Gestalt eines dreizipfligen Laubsackes oder einer weißen Ziege; dann erscheint es als Hund, als Schwein, als Katze, als Vogel ec., allemal mit dem entsprechenden Geschrei des betreffenden Tieres. Als einmal der alte Nef nachts  von uns weg nach Hause ging, begegnete ihm hinter unserm Hause ein großes Schwein, welches laut grunzte. Er glaubte, unser Schwein sei ausgekommen, weil wir zu dieser Zeit ein ähnliches besaßen. Nun kehrte er zurück und machte Anzeige. Unser Schwein aber war wohlbehalten im Stalle; in der ganzen Nachbarschaft wurde kein solches vermißt. Nef ging ein andermal aus der Laue nach Hause. Bei den Ahornen in der "Dicket" seien ihm so viele "Wickvögel" vor die Füße geflogen, daß er nicht mehr fortschreiten konnte. Die Vögel schrieen immer: "Wie witt, wie witt!" Da faßte er Mut, überschlug einige derselben und sagte: "Ihr strohls Narre, hei will i!" Nun stuben die Vögel auseinander, und es entstand ein Brausen und Toben im Eggliswald, daß man hätte meinen mögen, die ganze Welt werde zerfallen. Die "Dicket" war ein Lieblingsaufenthalt des Tuutiers. Der "Choche Ließ" sei einmal in seiner Hütte in der "Dicket" gewesen. Es brach ein sonderbares Geschrei los, und ein dreizipfeliger Laubsack legte sich auf das Hüttentürchen. Der Mann tat, als ob er nichts merke, worauf sich der Laubsack davonwälzte, wie er gekommen. Beim alten Hüttli im Türli sei einmal eine weiße Ziege gestanden. Die Ziege wurde immer größer und größer und verschwand plötzlich. Der "Melcherlis Bueb" behauptete, es sei keine rechte Geiß gewesen. Der "Gällelis Bueb" sei einmal "zu Stubeten" gegangen. Auf der Brücke zwischen "Seinis" und "Sessen Uelis" lag ein großes Schwein quer auf derselben und versperrte ihm den Weg. Er tat einen gewaltigen "Juck" über das Ungetüm; am andern Tage aber war er im ganzen Gesichte geschwollen und bekam einen hartnäckigen Ausschlag, welcher vom Tuutier verursacht worden sein soll. Nikolaus Bollhalder im Kühboden hat mir auch erzählt, er sei einmal nachts über das "Drecktöbeli" gegangen. Auf dem "Brüggle" legte sich ein großer Pudelhund ihm vor die Füße; er habe an jener Stelle nicht hinüberkommen können.
I. Hell.

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 423, S. 249
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