308. Der große Sexer

ist ein schöngelegener Felsenkopf in der weiten, wasser- und blumenreichen Flumser Alp Fursch, in der Nähe eines wunderlieblichen Seeleins.

Da geht eine gangähnliche Felsspalte wie eine Kellertreppe schräg abwärts, tief ins Dunkle. Unten komme man an eine geschlossene Türe. Wenn man anklopfe, rufe es innen: "Der Schlüssel ist über der Tür." Wer den Mut habe, den Schlüssel herunterzunehmen, die Türe zu öffnen und einzutreten, der erlöse eine arme Seele und erwerbe einen reichen Schatz.

Im großen Sexer, tief unten, sei eine Kiste voll Geld, die ein schwarzer Hund hüte. Einer, der hinabgestiegen, um die Kiste zu holen, sei nicht mehr heraufgekommen.

Ein Hirt, der am großen Sexer hütete, sah im Sexerloch einen Kuhfladen und rührte mit seinem Stecken darin. Als er zu den Furschhütten kam, bemerkte er, daß er Gold am Stecken hatte. Er kehrte zur Stelle zurück; aber der Fladen war verschwunden.

Den Schatz im großen Serer werde einmal ein armer Geißler erhalten.

Am großen Seier wächst die Allermannsharnischwurz, Allium Victorialis, eine Lauchart mit gazeähnlichen Zwiebelhüllen, als blutstillendes Mittel verwendet. Wenn sie am Augustheiligtag (Maria Himmelfahrt, Kräuterweihe) vor Sonnenaufgang gegraben und dem messelesenden Priester unter die Mitte des Altartuches gelegt wird, erhält sie die Kraft, unsichtbar und unverwundbar zu machen.

Unter dem großen Sexer sind kümmerliche, von den Schafen in Schneezeiten zerbissene Reste eines vor hundert Jahren noch stehenden Hochwaldes von Fichten und Arven. Noch lebt ein 85jähriger Greis, der von dort Holz zum Brennen und zu feinem Milchgeschirr zu den Hütten hinabtrug, zu denen man jetzt das Brennholz eine Stunde bergauf schleppen muß. Im Frühling, als wir auf Skien über die noch tief im Schnee liegenden Alpen fuhren, fanden wir hier ein schneefreies, warmes, vielblumiges Eiland. Möchte der Wald bald wieder erstehen!

Einige Männer hatten verabredet, den Schatz im Sexer zu gewinnen. Damit ihnen nichts geschehe, nahmen sie ein unschuldiges Kind mit. Sie kamen an die Türe, klopften an, auf den Zuruf öffneten sie und traten ein. Sie waren in einem Saal, der mehrere Türen hatte. An einem großen Tisch saßen schweigende Gestalten. Eine Frau, die einen Schweinskopf hatte, trat ihnen mit einem klirrenden Bund Schlüssel am Gürtel entgegen und fragte nach ihrem Begehren. Sie antworteten, sie wollen genug Geld. Das können sie bekommen, hieß es, wenn sie tun, was man ihnen sage. Zuerst mutsste jeder ein Pfand geben. Dann nannte sie ihnen einen bestimmten Abend, an dem sie wiederkommen und das verlangte Geld ohne weitere Gefährde holen können; aber Wort halten müssen sie unter allen Umständen, sei das Wetter wie es wolle. Wer am bestimmten Abend ausbleibe, müsse beim Tode kommen und ihnen nachher Gesellschaft leisten. Die Männer gelobten es.

Am festgesetzten Abend aber tobte ein so furchtbares Unwetter über Berg und Tal, wie man es noch nie erlebt hatte, und es kam keinem in den Sinn, zum großen Sexer zu gehen. Als nach Jahren einer von den Männern starb, sahen ihn die Älpler zu Fursch in der Sterbestunde über die Schwizerböden dem großen Sexer zueilen.

Einmal sahen die Küher zu Fursch eine Weibsperson mit einem "Parasol" (Regenschirm) dem großen Sexer zugehen. Sie verabredeten, das Weib einzuholen, um es zu erkennen. Als sie zum Sexer kamen, war die Gestalt verschwunden. Am andern Morgen aber war die Alp tief im Schnee.
J. B. Stoop

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 308, S. 172ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, August 2005.