322. Der Schrättlig

Ein Jüngling begleitete seine Geliebte in später Nacht vom Tanze heim. An einer Hausecke sagte sie zu ihm, sie habe da noch etwas zu tun; er solle ein Weilchen auf sie warten. Dann sah er sie nicht mehr. Eine schwarze Katze kletterte die hölzerne Hauswand hinauf und zu einem offenen Fenster hinein. Bald kam sie auf dem gleichen Wege zurück, und die Jungfrau stand wieder da. Der junge Mann stellte sie darüber zur Rede. Da klagte sie ihm, sie sei in einer Unglücksstunde geboren und müsse als Schrättlig Leute und Vieh plagen. Er fragte, ob es nicht möglich sei, sie von dem Unheil zu erlösen. Sie antwortete, er könne das, wenn er ihr erlaube, etwas, das ihm gehöre, totzudrücken. Er erlaubte es ihr. Am Morgen lag seine schönste Kuh tot im Stall. Er ging zu der Jungfrau und machte ihr Vorwürfe, daß sie gerade das wertvollste Stück ausgelesen. Sie sagte, sie habe das müssen, weil er ihr es bedingungslos erlaubte. Hätte er ihr ausdrücklich das geringste Stück bezeichnet, so hätte es den gleichen Dienst getan. Da freute er sich doch mit ihr, daß sie von dem bösen Zauber erlöst war, und sie lohnte es ihm mit treuer Liebe lebenslang.
J. B. Stoop

Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 322, S. 180
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, September 2005.