1. Der heilige Gallus

Nachdem Gallus in Arbon durch die Gnade Christi wieder genesen war, zeigte es sich bald, daß ihn die göttliche Vorsehung für höhere Dinge im deutschen Lande aufbewahrt hatte. Er wendete sich nämlich an den Diakon Hildibold, den treuen Genossen Willimars, der die Gegend daselbst genauer als andere kannte, und fragte ihn: "Mein Sohn, Hast du jemals in dieser öden Wildnis einen Ort gefunden, der geeignet wäre, darauf ein Bethaus und eine Wohnung für mich zu bauen? Denn mein Herz sehnt sich nach Einsamkeit, wie der Psalmist sagt: "Ich verblieb in der Einsamkeit und erwartete den, der mich gesund mache." Da versetzte der Diakon: "Mein Vater, rauh und voll starker Gewässer ist diese Wildnis. Hohe Berge und enge Täler hat sie in Menge und mancherlei Getier, sehr viele Bären, Wölfe und Wildschweine. Ich fürchte, sie möchten über dich herfallen, wenn ich dich dorthin geleitete." Der Mann Gottes aber antwortete: "Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Der den Daniel aus der Löwengrube gerettet hat, ist auch mächtig genug, mich aus den Klauen wilder Tiere zu befreien." Als nun der Diakon Hildibold seinen festen Willen erkannte, sprach er: "So wollen wir denn morgen in die Verborgenheit der Wälder dringen, ob wir vielleicht eine taugliche Stelle finden."

Den Rest des Tages brachte der Gottesmann im gewohnten Gebete zu und nahm keine Speise zu sich. In der Frühe des folgenden Tages aber machten sich beide unter Gebeten auf den Weg. Schon war die neunte Stunde des Tages verflossen, und der Diakon fragte den frommen Mann, ob er denn keine Erquickung zu sich nehmen wolle. Gallus aber sagte, er werde nichts verzehren, bevor er die Gegend gefunden habe, wo er seine Wohnung aufschlagen könne. So strengten sie von neuem die ermüdeten Glieder an, bis sie endlich an ein Flüßchen kamen, von den Anwohnern Steinach genannt, da wo das Wasser sich vom Berge herabstürzt und eine Höhlung im Felsen gebildet hat, die jetzt Mühletobel genannt wird. Hier beschlossen sie die Nacht zu ruhen, zumal sich eine Menge Fische im Wasser zeigte. Ein Netz, das der Diakon mitgebracht hatte, ward hineingesenkt und eine beträchtliche Anzahl der flinken Schuppenträger gefangen. Hildibold schlug Feuer und bereitete ein erquickendes Mahl. Unterdes hatte der Gottesmann eine Stelle gesucht, wo er sein gewöhnliches Gebet verrichten und knien könnte. Da stieß er mit dem Fuß an einen Dornbusch, strauchelte und fiel nieder. Der Diakon lief herzu und wollte ihn aufheben; er aber sprach mit den Worten des Psalmisten: "Laß mich! Dies ist meine Ruhestatt ewiglich. Hier will ich wohnen; denn hier gefällt mir's wohl." Und als er sich vom Gebet erhoben hatte, machte er aus einer Haselrute ein Kreuz und befestigte daran eine Kapsel, in der sich einige mitgebrachte Reliquien befanden. Hierauf beteten beide Männer einmütig, und Gallus sprach demütig flehend: "Herr Jesu Christi, der du durch das Siegeszeichen des Kreuzes dem Menschengeschlecht Heil und Hilfe gebracht hast, gib, daß diese Gegend zu deinem Lob und Preis bewohnbar sei!" Inzwischen war der Abend herabgesunken, worauf sie mit Danksagung ihr Mahl einnahmen.

Darauf legten sich beide zur Ruhe. Bald aber erhob sich Gallus wieder und kniete vor jenem Kreuze in inbrünstigem Gebete. Sein Reisegefährte horchte im Geheimen und nährte ab und zu das glimmende Feuer, Sieh, da stieg ein Bär aus dem Waldgebirge herab, trabte heran und verschlang die Überreste der Mahlzeit. Mit Furcht und Bangen lag Hildibold, ohne sich zu rühren. Gallus aber stand auf vom Gebet, trat vor den Bären und sprach zu ihm: "Untier, im Namen Jesu Christi befehle ich dir, nimm Holz und wirf es ins Feuer!" Und der Bär kehrte sogleich um, kam auf den Hinterbeinen wieder, brachte einen gewaltigen Klotz geschleppt und legte ihn ins Feuer. Zum Lohn dafür reichte ihm der Gottesmann ein Stück Brot, das der Bar behaglich brummend verzehrte. Dann sprach Gallus zu ihm: "Im Namen Jesu Christi, meines Herrn, weiche aus diesem Tale! Die Wildnis der freien Berge und Hügel mag dein Gebiet sein; hier aber sollst du weder Vieh noch Menschen verletzen!" Und der Bär lief von dannen, verschwand im Wald und kehrte nicht wieder. Zum Andenken an diese wunderbare Begebenheit führt St. Gallen heute noch einen aufrechtstehenden Bären im Wappen. Der Reisebegleiter aber, der alles mitangesehen hatte, stand auf, warf sich dem Heiligen zu Füßen und rief: "Jetzt weiß ich, daß der Herr mit dir ist; denn die Bären der Wildnis gehorchen dir!" Doch Gallus verbot ihm, vor ihm zu knieen und jemand ein Wort davon zu erzählen, bis er größere Wunder gesehen habe. Und wirklich ließen, wie die fromme Sage meldet, solche nicht auf sich warten. Eines wollen wir, der Legende folgend, dem Leser noch mitteilen.

Als es Morgen geworden war, sagte der Diakon: "Herr, was willst du, daß wir heute tun?" Gallus erwiderte: "Laß uns diesen Tag noch hier bleiben. Nimm die Netze und gehe zum Strudel. Ich folge dir bald." Also erhob sich Hildibold und ging, das Netz auszuwerfen. Sieh, da erschienen ihm zwei böse Geister in Weibergestalt, die schleuderten Steine gegen ihn und sagten: "Warum hast du jenen Mann in unsere Wildnis geführt? Er ist ungerecht und übermächtig!" Zitternd lief der Diakon zu Gallus zurück und verkündete ihm das Geschehene. Der Heilige aber stärkte sich durch Gebet, ging mit seinem Genossen an den Strudel und rief: "Gespenster, ich befehle euch im Namen des dreieinigen Gottes, weichet von diesem Ort und kommt niemals mehr hierher!" Und sieh, die Geister entflohen klagend und heulend das Flußbett aufwärts und immer weiter, bis sie verschwanden. Während die Männer das Netz mit den Fischen aus dem Wasser zogen, hörten sie noch die verklingenden Stimmen der Unholdinnen. Nachmals, als der Diakon Hildibold einst ausging, Habichte zu fangen, vernahm er von einem Berg herab von unsichtbarem Munde die Frage: "Ist Gallus noch in der Wildnis?" Und als er laut und kräftig "ja, er ist da und bleibt da", in den Wald hinein rief, hörte er nur ein Knurren und Winseln, das sich allmählich in der Ferne verlor.

Gallus und Hildibold durchforschten nun Tal und Berg und fanden in der Nähe, zwischen den zwei Bächen Steinach und Ira, einen Wald und eine anmutige Ebene; das war ein Ort, der zur Errichtung einer Zelle einlud. Zwar waren daselbst viele Schlangen; aber auf das Gebet des Heiligen verschwanden sie und zeigten sich nicht wieder.

Dr. G. Klee. Nach der Vita, St. Galli.
(Diener des Kreuzes, Stuttgart, Steinkopf, 1900.)


Quelle: Sagen des Kantons St. Gallen, Jakob Kuoni, St. Gallen 1903, Nr. 1, S. 1ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Irene Bosshard, März 2005.