Der Vogt auf Schwendi

Im Rachentobel, nicht weit von dem schönen Dorfe Appenzell, wohnte ein kleiner nötiger Bauer, der wohl auch mitunter den Müller spielte und seinen spärlichen Roggen selber mahlte und zu Brot buk.

Dieser arme Bauer hatte sieben Kinder, die immer mit schneeweißen Zähnen dem Vater zusahen, wenn er Brot machte, also daß ihnen das Wasser im Munde zusammenlief. Der munterste unter ihnen aber war ein Knabe. Der brachte in seinem Milchtanslein fast alltäglich die Milch in eine benachbarte Sennhütte. Er mußte dann immer an der alten Burg vorbei, die unweit vom Dorfe auf einer Anhöhe stand.

In dieser Burg hauste ein alter, bärbeißiger Edelmann, der die Leute gar sehr bedrückte und der keines Menschen Freund, aber der Appenzeller Hirten Feind war. Er haßte sie, da sie immer mehr nach Unabhängigkeit vom Adel trachteten. Die Appenzeller aber haßten ihn als ihren Bedrücker. Sie wagten sich gleichwohl nicht an ihn, so gerne sie's getan hätten, weil er unter den Adeligen um den Bodensee mächtige Vettern hatte.

Eines Tages nun ging das Bürschlein aus dem Rachentobel auch wieder an der Burg vorbei, vor deren Tür der Edelmann wie gewöhnlich am Abend saß und sich sonnte. Wie nun der Knabe an ihm vorübergehen wollte, redete ihn der Ritter an und fragte barsch: "Was machen dein Vater und deine Mutter?" Da antwortete der Knabe: "Der Vater bäckt ehegegessenes Brot, und die Mutter macht bös auf bös." Jetzt wollte der Edelmann wissen, was diese Rede für eine Bedeutung habe. "Ei", sagte der Bub, "der Vater bäckt Brot, das wir essen, ehe es bezahlt ist, und die Mutter setzt Lappen auf unser zerrissenes Gewand." Da wollte der Edelmann wissen, warum sie das täten. "Eben darum", antwortete der Bub, "weil du uns alles Geld nimmst."

Der Edelmann erboste und drohte ihm und sagte, er werde noch einmal seine Hunde, die groß wie Kälber waren und zu seinen Füßen knurrten, auf ihn loslassen, falls er nicht manierlichere Antworten zu geben wisse.

Der kecke Bub ging nun doch etwas verängstigt heim, denn die beiden Hunde hatten ihm zwei Reihen gar großer und gut erhaltener Zähne gewiesen. Zu Hause erzählte er alles. Nun gab ihm sein Vater den Rat, er solle das nächstemal mit der leeren Milchtanse am Schloß vorbeigehen und dabei die Tanse verkehrt auf dem Rücken tragen, daß der Boden oben, die Öffnung unten sei. In die Tanse aber soll er eine Katze stecken. - Der Knabe machte es so und verschloß die verkehrte Milchtanse sorglich mit dem Deckel.

Wie er nun an der Burg vorbeikam, stellte ihn der böse Edelmann wieder und schnauzte ihn an: "Nun hör, du Witznase, kannst du mir nun auch sagen, ob die Elstern mehr weiße oder schwarze Federn haben?" Der Bub sagte ohne weiteres: "Mehr schwarze." "Warum?" wollte der Ritter wissen.

"Weil der Teufel mit den Zwingherrn mehr zu schaffen hat als die Engel", antwortete keck der Bub.

Jetzt wurde der Edelmann wütend. Er ließ die Hunde ab, die gleich hinter dem flüchtenden Knaben herrasten.

Rasch öffnete der Bub den Milchtansendeckel, die Katze schoß hinaus, und nun jagten die Hunde der Katze nach, also daß der auflachende Knabe weiterfliehen konnte.

Doch der Zwingherr hatte, kochend vor Wut, einen Jagdspieß von der Wand gerissen und rannte nun, kreideweiß vor Ingrimm, hinter dem Knaben her. Und trotzdem der lief, was er nur konnte, holte ihn der langbeinige Ritter doch ein und warf den Spieß nach ihm, also daß das Büblein tot zusammenbrach.

Als nun der Vater im Rachentobel seines Söhnchens schaurigen Tod vernahm, eilte er racheschnaubend zu seinen Nachbarn und im ganzen Lande herum. Bald wurde es dem Zwingherrn unheimlich in seinem Burgstall. Er machte sich in einer Nacht still davon und konnte dann im dämmernden Morgen, als er auf die Fehneraspitze hinaufkam, zuschauen, wie das Feuer in hellen Flammen zu seinem Schloß hinausschlug und wie es bis auf den Grund niederbrannte. Er ist auch nie wieder ins Appenzellerland zurückgekommen.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.