Der Schlangenbanner

Eine der schönsten Alpen im graubündnerischen Prätigau ist die Saaseralp auf der Sonnenseite des gewaltigen Madrisahorns. Selten an einem Orte werden die Kühe ergiebiger in der Milch als auf jenen Alpenweiden.

Einst war das nicht so. Die Alp war mager und trocken, und das Vieh, das dort sömmerte, sah schmal und unschön aus, wenn es im Herbst zu Tal fuhr. Das Böseste aber war, daß auf der Alp unzählige Schlangen ihr Unwesen trieben. Es war kein angenehmer Schleck, an den sonnigen Halden, an denen das Schlangengezücht giftgeschwollen herumraschelte, das Vieh zu hüten. Wo auch die Hirten gingen, überall ringelte sich zischend giftiges Gewürm empor und bedrohte sie mit einem jämmerlichen Ende. Eine Kuh nach der andern wurde gebissen und mußte abgetan werden.

Eines Abends, als gerade ein Hirt nach Saas hinunter den Bericht brachte, es sei soeben von einer giftigen Schlange die Heerkuh, die vürnehmste Kuh auf der ganzen Alp, getötet worden, kam ein kleines, fremdes Männchen ins Dorf gegangen. Es war ein fahrender Schüler. Als man ihm nun von den giftigen Schlangen auf der Saaseralp erzählte, blinzelten seine grauen Augen seltsam unter den überhängenden Augenbrauen hervor. Er wollte aber noch mehr von diesen Schlangen wissen und fragte die Bauern lange aus. Zuletzt fragte er schier ängstlich, ob sie unter den vielen Schlangen auf der Alp nie eine weiße gesehen hätten. Als aber die Älpler alle laut versicherten, daß sie dort ihr Lebtag noch nie weiße Schlangen erblickt hätten, und als auch der älteste Mann nichts von weißen Schlangen wissen wollte, ward das seltsame Männchen gut gelaunt und anerbot sich, die Schlangen auf der ganzen Alp zu bannen und unschädlich zu machen.

Das freute die Bauern von Saas sehr. Doch trauten sie der Sache bloß halb. Sie wollten es erst mit eigenen Augen sehen. Also führten sie den fahrenden Schüler auf die Alp.

Wie er nun dort ankam, machte er mit Reisig und Heidekraut drei große Haufen. Auf diese Haufen warf er ein paar Hände voll eigenartiger Kräuter und Wurzeln und zündete sie danach an. Und nun nahm er feierlich das Käpplein ab, zog ein silbernes Pfeiflein aus der Tasche und fing zu pfeifen an, während er unter wunderlichem Getue um die drei Haufen herumschritt.

Eine Weile blieb alles mäuschenstill. Die Saaser Bauern wagten kaum zu atmen. Sie waren sehr gespannt darauf, was da wohl noch geschehen werde.

Da auf einmal krochen zum Schrecken der Saaser von allen Seiten, einzeln und in ganzen Knäueln, die Schlangen herbei. Aber sie beachteten die zitternden Hirten gar nicht. Schnurstracks, fürchterlich zischend, stürzten sie sich allesamt ins Feuer, das aus den drei Haufen hoch aufloderte, wo sie unter schrecklichem Gewinsel und hochaufschnellend verbrannten und verkohlten.

Schon freuten sich die Hirten, denn nun kam keine Schlange mehr, sie schienen alle im Feuer zugrunde gegangen zu sein. Auch das kleine Männchen, der fahrende Schüler, atmete lange auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

O weh, da gab es auf einmal Lärm unter den Saasern. Sie fuhren entsetzt vom Feuer weg, denn unter schauerlichem Gezische rollten in großen Windungen drei ungeheure weiße Schlangen daher, von denen jede ein goldenes Krönlein auf dem Kopf hatte. Blitzgeschwind raschelten sie daher und spien Gift und Feuer aus.

Erst war der fahrende Schüler wie versteinert dagestanden. Dann stieß er auf einmal einen entsetzlichen, Berg und Tal durchgellenden Jammerschrei aus und rannte, so schnell er vermochte, Sonnenaufgang zu. Doch die weißen Schlangen verfolgten ihn pfeilschnell. Er strengte sich auf Tod und Leben an, über einen nahen Bach zu kommen, dort hielt er sich für gerettet. Schon hatte er ihn erreicht und wollte ihn eben überspringen, als ihn die weißen Schlangen packten. Schrecklich heulte er auf, daß den Saasern die Haare zu Berge standen und die Knie schlotterten. Und jetzt umwanden die weißen Schlangen das Männchen und drückten es zu Tode, rissen ihm das Herz aus dem Leibe und verschwanden im Farnkraute. Also fürchterlich hatten sie den Feuertod der Schlangen gerächt.

Heute noch heißt jener Bach, an dem der fahrende Schüler so elend umkam, der Schreierbach, denn die Saaser konnten die schrecklichen Schreie, die das Männchen ausstieß, nicht mehr vergessen. Von Schlangen aber merkte man von da an diesseits des Baches nie mehr etwas.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.