Der Lehenzins

Unter dem düstern Giswiler Stock im Unterwaldnerland liegt ein schönes Heimwesen, das "Iwi" genannt. Die Matten sind voll von schönen Bergblumen, also daß die wilden Bienen ihre liebe Not haben, sommerlang die Millionen voller Honigbecherlein abzusuchen.

Einst war ein hablicher Bauer mit seinem Sennten von dreißig gutfarbigen Kühen aufs "Iwi" gefahren. Wie er da im Vorsäß war, erschien unversehens eines Tages, als er eben, den Melkstuhl am Arm und den Eimer in der Faust, sich unter eine Kuh setzen wollte, ein wunderliches Männlein vom Giswiler Stock her. Es hatte einen langen, weißen Bart und ein uraltes Gesicht. Verwundert blieb der Mann stehen und wartete, bis das Männlein vor ihm stand. Wie es nun bei ihm angekommen war, grüßte es freundlich, und dann bat es in den eindringlichsten Tönen, der Bauer möge ihm doch für den Sommer eine Kuh ins Lehen geben. Der Bauer, der das seltsame Männlein noch nie zuvor gesehen hatte, glotzte nur verwundert auf sein altmodisches Röcklein und sagte nichts, denn er traute der Geschichte bloß halb. Als aber das Männlein nicht nachließ, ihn um eine Kuh zu bitten und zu beten, fiel es dem Hirten ein, er habe ja noch eine magere, nichtsige Kuh, die ohnedies abgehend sei und wohl bald dahinsiechen und umstehen werde. Um dieses Stück Vieh sei's am Ende nicht schade, auch wenn er's nie mehr zu sehen bekommen sollte. Also sagte er dem Männchen das magere Urner Kühlein zu, doch wollte er ihm vorher die Schelle abziehen, denn er schätzte die Glocke der Kuh höher als sie selber. Als aber das Männlein bittlich anhielt, er solle ihm doch die Kuh samt der Schelle lassen, willigte der Bauer schließlich ein. Auf St. Michaelistag sollte ihm jedoch die Kuh samt Lehenzins pünktlich wiedergebracht werden. So war denn der Handel gemacht. Das wunderliche Männlein zog mit seiner mageren Lobe ab, und der Bauer sah der Kuh nach und dachte: Dich und das alte Männlein sehe ich gläublich nicht wieder. Immer ferner läutete die Schelle der abziehenden Kuh, bis er sie nicht mehr hörte. Da hockte er sich auf seinen einbeinigen Melkstuhl und begann das herandrängende Vieh zu melken.

Aber als er eines Tages vor sein braunes Häuschen trat und an den Giswiler Stock hinaufschaute, sah er weit oben in den Gemsplätzen sein mageres Kühlein munter weiden. Da gab er die Kuh völlig verloren, denn dort mußte sie ja gewiß bald abstürzen, da nur Gemsen in jenen Schroffen gefahrlos zu weiden vermochten. Danach sah er nicht mehr hinauf, denn er fuhr mit seinem Sennten auf die Hochalpen und vergaß den ganzen Handel. Doch ging es ihm diesen Sommer immer merkwürdig gut. Sein Vieh ward rund und glänzend, während seine Nachbarn allerlei Seuchen hatten, also daß ihre Kühe gegen den Herbst zu die Haare stellten, als ob sie beim Bürstenbinder gesömmert worden wären.

So wurde es Herbst. Da war der Bauer wieder von der Hochalp ins Vorsäß "Iwi" abgefahren, und die Kühe sprangen vor Vergnügen wie die Heuschrecken vor der Sense im saftigen Herbstgras herum. Am Michaelistag saß der Bauer vor seinem Häuschen und dachte an nichts. Da hörte er eine Kuhschelle mit absonderlich schönem Klang läuten. Wie er neugierig aufschaute, sah er das Männlein mit dem schneeweißen Barte daherkommen. An der Hand führte es eine Kuh, die glänzte wie die Seide am Zapfen. Da sei nun die Kuh wieder, sagte das herankommende Männlein, die er ihm lehenweise in die Sömmerung gegeben habe. Wieviel Lehenzins er nun von ihm verlange.

Der Bauer mußte nur so Augen machen. Er konnte zuerst gar nicht glauben, daß die schöne Kuh mit dem saitengeraden Rücken und den strotzenden Milchzeichen das elende, abgehende Kühlein sein sollte, das er dem Männlein im Frühling ins Lehen gegeben hatte. Endlich erholte er sich von seiner Verwunderung und sagte, daß er gar keinen Lehenzins begehre. Er wolle ihm gegenteils gerne im nächsten Lenz wieder eine Kuh zur Sömmerung überlassen. Doch das seltsame Männlein antwortete, es brauche nun nie mehr eine Kuh, da es für sein ganzes Leben Milch und Käse haufensgenug habe. Dann überreichte es dem Bauer ein Bratkäslein und sagte zu ihm, er gebe ihm nun diesen kleinen Käse als Lehenzins. Er solle ihn aber ja nie ganz aufessen, dann habe er immer Käse. Da lachte aber der Bauer nur und schüttelte ungläubig den Kopf. Das Männlein aber rief aus: "Thio und liog!" ("Tu's, und dann wirst du's schon sehen!"), und im Hui war es weg und lief flinkfüßig wie ein Spinnlein am Giswiler Stock hinauf.

Am Abend, als der Bauer mit seiner Frau zu Tische saß, kosteten sie vom Käslein, und es bedünkte sie, es habe einen gar vornehmen Geschmack. Sie ließen dann auch die Nachbarn oftmals davon essen. Jedesmal, wenn man das Käslein wieder hervornahm, war es ganz wie zuvor. Das ging wohl zwei Jahre lang so fort. Aber eines Tages hatte der Bauer den Schneider und den Schuhmacher gleichzeitig auf der Stör (in Arbeit im Haus). Wie er das Bratkäslein dem Schneider und dem Schuhmacher als Vesperbrot auftischte, da schmeckte es ihnen so vortrefflich, daß sie, ohne daß der Bauer es gerade gewahrte, das ganze Käslein aufaßen. Da ward der Bauer zornig, als er's bemerkte, denn nun konnte das Käslein nicht mehr wachsen, wie viel und wie lang er auch den Schneider und den Schuhmacher ausschimpfte.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.