Kaiser Karl der Große und die Schlange
Der hochberühmte Kaiser Karl, der Mehrer des Deutschen Reichs und der gewaltige Feind des Heidentums, kam auch oft über den Rhein in die schweizerischen Vorlande, besonders nach dem weitbekannten Kloster St. Gallen geritten. Oft hatte er da mit den Klosterschülern seine Kurzweil.
Im Kloster lebte damals ein Mönch namens Tanko, der sehr geschickt war. Er soll der erste Glockengießer des Deutschen Reiches gewesen sein. Ihn beauftragte nun Kaiser Karl, er möchte für das Kloster eine Glocke gießen. Als nun der geschickte Meister die Glocke fertig hatte, ließ er sie unter dem Dach neben der Kirche aufhängen. Da kam bald danach der Kaiser wieder in den Thurgau. Und als er nun eines Tages in die hochgelegene, schöne Stadt St. Gallen einritt, begrüßte ihn von der Klosterkirche her das Läuten der ersten Glocke. Da freute sich der Kaiser sehr, denn die Glocke klang wie eine Orgel. In seiner Freude schenkte er dem Meister Tanko einen ganzen Zentner Silber, damit er eine Glocke von noch feinerem Klang gieße.
Aber obwohl nun der Mönch gar geschickt war, so war er doch nicht so gottesfürchtig wie seine Mitbrüder. Er behielt das Silber für sich und nahm nur Zinn und Kupfer für den Glockenguß. Als er nun die neue Glocke im Kloster neben der Kirche aufhängen ließ, fiel der schwere Klöppel herab und erschlug den frevelhaften Meister auf der Stelle.
Nun will ich aber ein Stücklein von der Gerechtigkeitsliebe Kaiser Karls erzählen.
Nämlich Kaiser Karl kam auch auf seinen Umzügen durch sein weites Reich in den Zürichgau und nach Zürich. Da hielt er in dem Haus zum Loch neben dem Großmünster, von dem heute noch sein Steinbild auf die Stadt herabschaut, Hof und sprach Recht. Denn er hatte auf der Stelle, wo die Märtyrer Felix und Regula hingerichtet worden waren, eine Säule aufrichten lassen. An dieser hing ein Glöcklein, das jedermann ziehen durfte, der sich zu beklagen hatte, wenn der Kaiser bei Tische saß.
Eines Tages nun, als Kaiser Karl wieder frohgemut im Hause zum Loch Tafel hielt, hörte er das Klageglöcklein läuten. Er schickte einen Kriegsknecht hin, nachzuschauen, wer von ihm einen Rechtsspruch begehre. Aber der Kriegsknecht kam mit der Meldung zurück, daß niemand an der Säule beim Glöcklein zu sehen sei. Da ertönte das Glöcklein wieder und wieder. Jetzt ward es dem hohen Herrn unheimlich. Er befahl dem Kriegsknecht, sich in Hinterhalt zu legen und genau acht zu geben, was denn bei der Säule los sei. Der tat also, und da erblickte er zu seiner Verwunderung eine Schlange, die sich um das Glockenseil wand und es also läutete. Er meldete es sogleich seinem Herrn.
Jetzt erhob sich Kaiser Karl und machte sich mit mächtigen Schritten zu der Glockensäule. Da fand er die Schlange. Diese aber verneigte sich tief vor ihm und raschelte dann vor ihm her. Der Kaiser folgte ihr, und so führte sie ihn zum Ausfluß des Sees, wo sie im Schilf der Limmat ihr Nest hatte. Verwundert sah der Kaiser darin auf den Eiern der Schlange eine gewaltige Kröte kauern. Da befahl er, die scheußliche Kröte wegzunehmen, und da sie fremdes Eigentum und Leben hatte rauben wollen, verurteilte er sie zum Feuertode.
Einige Zeit nach diesem Rechtsspruch saß Kaiser Karl wieder im Hause zum Loch am Tische. Da ging auf einmal die Türe wie von selbst auf. Der Kaiser und seine Gäste erschraken und dachten an Zauberei. Aber jetzt kroch die Schlange über die Schwelle. Sie kroch zum Kaiser heran, wand sich am Tischbein herauf auf den Tisch, stieß den Deckel am goldenen Becher des Kaisers auf und ließ darein einen funkelnden Edelstein fallen, also daß man's im Saale wie ein feines Läuten hörte. Dann verschwand sie und wurde nie mehr gesehen.
Karl aber, der dafür hielt, daß der Himmel seinen Sinn besonders
habe prüfen wollen, ließ über der Stelle, wo er der Schlange
Nest gefunden, eine Kirche bauen, die das Volk die Wasserkirche nannte.
Sie steht noch heute. Den Edelstein aber schenkte er seiner Gemahlin,
die ihn zeitlebens in einer goldenen Kapsel auf dem Herzen trug.
Quelle: Meinrad Lienert,
Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner
2005.