Vier Mariensagen
4. Unsere Liebe Frau des Wanderers

Im Unterwaldnerland gibt es einen Bergpfad, der sich durch eine wild zerrissene Steinöde höhwärts windet. An der Stelle, wo er am schmalsten ist und wo die Felsen über ihm hängen, als wollten sie jeden Augenblick auf ihn herabstürzen, und wo unter ihm grauenhafte Abgründe gähnen, steht eine kleine Wallfahrtskapelle. Sie ist der Muttergottes Maria geweiht und heißt: "Unsere Liebe Frau des Wanderers."

Einst, in früheren Zeiten, wurde diese unheimliche, schmale Stelle der Teufelsweg genannt. Die bösen Geister hielten hier Wache, und alles, was vorüberkam, Jäger, Hirten, einsame Wanderer, kamen in ihre Gewalt. Bald wurden die Armen von jähem Schwindel übernommen und fuhren rettungslos in die schauerlichen Abgründe, in denen riesige Tannen wie Grashalme aussahen. Dann wieder brachen schreckliche Unwetter los, und die Blitze fuhren an den steilen Wänden herum wie Schlangen und töteten die Wanderer. Oft auch, wenn alles ruhig schien, brauchte nur eine Grille auf einem Grasband zu zirpen und ein Vöglein zu singen, so fuhren die Lauinen über die Rissenen und Runsen und Felshänge herab und wischten alles, was gerade auf dem schmalen Bergsteig war, in die Tiefe. Jedermann scheute sich daher, den gefährlichen Pfad zu betreten, da er also verflucht war und da alle irdischen Mittel nichts nützten, ihn sicherer zu machen.

Da kamen die geplagten Leute, die den bösen Pfad eben doch hätten begehen sollen, auf den Gedanken, an jener schlimmsten Stelle eine Kapelle zu erbauen und ein Marienbild hineinzustellen, damit niemand vergesse, daß am bösen Weg eine Helferin sei, die man in der Not anrufen könne.

Wer aber sollte das gefährliche Werk ausführen und die Kapelle an jener Wegstelle erbauen, wo selbst eine Gemse mit vorsichtigen Tritten durchging? Lange fand sich, trotz aller schönen Anerbieten, niemand, der das Leben für des Landes Wohl einzusetzen wagte. Der notwendige Felsensteig konnte nicht begangen werden. Endlich fanden sich doch einige mutige Männer, die es versuchen wollten, die Kapelle zu erbauen. Nachdem sie noch eine heilige Messe mit Andacht angehört hatten, machten sie sich, mit allem Notwendigen wohlausgerüstet, zu jener bösen Wegstelle hinauf und begannen den Bau der Kapelle. Mit Grauen sahen sie dabei unter sich die Abgründe, die wie riesige Lindwürmer die Rachen nach ihnen aufzusperren schienen. Mit geheimer Angst taten sie auch zuweilen einen verstohlenen Blick ob sich nach den überhängenden Felsen, die jeden Augenblick über sie herabzustürzen drohten.

Aber wunderbarerweise geschah ihnen nichts. Nicht ein einziger stürzte ab, und ruhig wie die Lämmlein im Stall blieben die Felsen über ihnen. Die arbeitenden Männer konnten es nicht begreifen. Sie hatten den Tod alle Augenblicke erwartet, aber er kam nicht. Eines Tages jedoch, als sie von ihrer schweren Arbeit ein wenig ausruhten und an die dräuenden Felsen über sich hinaufschauten, erblickten sie zu ihrer Verwunderung überall seidenfeine weiße Marienfäden, die von Stäudlein zu Stäudlein, von Grasbüschel zu Grasbüschel gingen und also als ein zartes Spinngeweb über die überhängenden Felsen ausgespreitet waren.

Da erkannten sie, daß die Muttergottes Maria zu ihrem Schütze das fürchterliche Gefelse mit ihrem Schleier umfangen hatte und es also festhielt, damit es nicht über sie herabstürzte.

Nun bauten sie getrost weiter, sahen mit keinem Auge mehr ob sich noch nid sich, und bald klebte die kleine Bergkapelle fertig am bösen Weg, ohne daß den Arbeitsleuten etwas Ungerades begegnet wäre. Dann kam der Pfarrherr mit feierlicher Prozession aus dem Tal herauf, weihte die Kapelle ein und nannte sie die Bergkapelle zu Unserer Lieben Frau des Wanderers.

Seither mußten die bösen Geister weichen. Sooft auch Jäger, Wildheuer und andere Wanderer an der Bergkapelle vorbeigingen, soviel auch fromme Leute zu ihr pilgerten, nie mehr geschah jemandem ein Leides. Und so möge es in Gottesnamen bleiben bis ans Ende der Tage.

Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Bettina Stelzhammer, Jänner 2005.