DIE WILDE SENDRIN 1)

In dem Gebiet der Lesachtaler Alpen liegt inmitten saftiger Weiden eine Schwaige 2), die von den Leuten früher ängstlich gemieden wurde. Weit und breit war kein Stück Vieh zu sehen, keine Sennerin wirtschaftete in Stall und Hütte, und unheimliche Geister trieben dort ihr Unwesen.

Eines Tages verirrte sich ein Jäger in diese einsame Gegend. Er war bei glühender Hitze lange in den Schroffen des Rosenköpfls (Böses Weibile 3)) herumgeklettert, bis plötzlich schwarze Wolken den Himmel bedeckten und ein heftiger Wind über die Hochflächen fauchte. Da tauchte die verlassene Schwaige vor ihm auf und bot ihm ihr schützendes Dach.

Die wilden Sender

Kaum hatte er sich ein wenig in der Hütte umgesehen, als auch schon ein gewaltiges Unwetter losbrach. Blitze erhellten in feurigen Bündeln die fahle Dämmerung, mark-erschütternd krachten die Donnerschläge, und der Regen schoss in Bächen über die steilen Hänge.

Der Jäger kletterte müde unter das Dach und legte sich auf die für die Bergwiesenarbeiter bestimmte Heuschütte. Es mochte Mitternacht sein, als ihn Johlen und Peitschenknall aus tiefem Schlaf weckten. Der Lärm kam langsam näher, und als der Bursche neugierig durch die Dachluke schaute, sah er im trüben Licht des Mondes kopflose, missgestaltete Kühe und Ochsen auf die Hütte zukommen. Mitten unter ihnen schritten einige Sennerinnen mit breiten, tief ins Gesicht gezogenen Hüten und trieben ihre sonderbare Herde mit Knallen und Schreien an.

Der Jäger war gewiss nicht furchtsam, aber beim Anblick dieses abscheulichen Aufzuges überkam ihn das Gruseln. Leise nahm er seine Büchse zur Hand und schob behutsam die geweihte Kugel, die er immer bei sich trug, in den Lauf. Dann legte er sich auf den Fußboden und spähte durch eine Ritze in die Küche hinunter.

Die Hüttentür wurde aufgerissen, und die wilden Sendrinnen stürmten herein. Sie machten ein Feuer an, und bald knackte und prasselte das Holz, und die Glut erleuchtete den rußgeschwärzten Raum. Ungesehen beobachtete der Jäger die unheimlichen Gestalten. Sie kochten und brieten und tuschelten sich dabei Geheimnisse ins Ohr. Dann lachten sie, dass dem Mann das Blut erstarrte, und schauten zum Unterdach hinauf. Wie entsetzlich waren diese Gesichter, wie böse ihr Blick. Er musste alle Kraft zusammennehmen um ruhig zu bleiben.

Die wilde Sendrin

Nach der Mahlzeit stand eine Sendrin auf und ging zur Leiter um zur Heuschütte hinaufzusteigen. In diesem Augenblick feuerte der Jäger seine geweihte Kugel ab - und der Spuk war verschwunden. Ein höllischer Sturm umbrauste das Haus, ein Donnerschlag erschütterte die Luft, und dann kehrte wieder Friede ein.

Als der Mann am nächsten Morgen ins Freie trat, war der Boden ringsum von der nächtlichen Herde zerstampft. Er stieg ins Tal hinunter und erzählte den Leuten von seinem Erlebnis.

"Dort oben warst du", riefen sie ungläubig, "auf der verrufenen Alm? Dann dank dem Herrgott, dass du mit dem Leben davongekommen bist. Vielleicht hast du die bösen Geister vertrieben!"

Vor vielen Jahren hatte auf dieser Schwaige eine recht fahrlässige Sendrin gewirtschaftet. Die vergaß beim Almabtrieb den geweihten Palmbuschen auf den Herd zu legen und den Almsegen zu sprechen, ja nicht einmal Weihwasser sprengte sie über die Triften 4). So kam es, dass die Dämonen Macht gewannen und die wilde Sendrin ihr Unwesen treiben konnte.

Alle Menschen, die sie in ihre Gewalt bekam, wurden in kopflose Ochsen und Kühe verwandelt. In Vollmondnächten jagte sie das Vieh mit Johlen und Peitschenknallen stundenlang über die Almen, bis die Tiere in Schweiß gebadet waren. Die Kühe gaben keine Milch mehr, und die Ochsen konnten vor Erschöpfung kaum grasen und magerten ab.

In der Schwaighütte begann nachts das Geschirr zu poltern, Käselaibe und Butterstriezel flogen durch die Luft, und wenn die Leute in der Früh vom Unterdach herunterstiegen, lag alles kreuz und quer auf dem Boden.

Keiner, der einmal die wilde Sendrin gesehen hatte, konnte je wieder fröhlich lachen, und die Knechte und Mägde weigerten sich fortan auf diese Alm zu gehen.

Aber der beherzte Jäger hatte den Ort wirklich von den Dämonen befreit. Heute herrscht wieder Leben dort oben, gesundes Vieh grast auf den Weiden, und die Dirnen melken und buttern, ohne von der wilden Sendrin geschreckt zu werden.


1) Sendrin: Sagengestalt, die auf dem Berg ihr Unwesen treibt
2) Schwaige: Sennhütte mit dazugehöriger Alm
3) Böses Weibile: Berg in den Lienzer Dolomiten
4) Triften: Viehweiden

Quelle: Sagen und Geschichten aus dem Lesachtal, gesammelt und niedergeschrieben von den Schülern der 2. Klasse der Hauptschule Lesachtal Schuljahr 2000/2001, unter den Anleitungen von Hans Guggenberger und Edith Unterguggenberger