Waffenstillstand

Die Morgenröte stand über dem Schlachtfelde, das die Troianer als Sieger inne hatten. Aineias richtete auf einem Hügel ein Siegeszeichen auf. Der Stamm einer riesigen Eiche, von dem alle Äste abgehauen waren, wurde mit der funkelnden Waffenrüstung des Feldherrn Mezentius bekleidet; rechts wurden der blutige bebuschte Helm, die zerbrochenen Speere des Fürsten, sein Panzer, der zwölfmal von Geschossen getroffen und durchbohrt war, aufgehängt; links der eherne Schild, und an seinem Gurte das Schwert in der Scheide von Elfenbein. Der gesamte Haufe der troianischen Führer drängte sich um das Denkmal, und Aineias weihte die Beute unter feierlichem Flehen dem Schlachtengott.

Alsdann wandten sie ihre Schritte nach dem Lager, wo der greise Arkadier Akoites, der als Waffenträger und Gefährte seinem geliebten Zögling gefolgt war, den entseelten Leib des Pallas hütete, den eine Schar von Dienern und teilnehmenden Troianern und Troianerinnen mit aufgelöstem Haar umstand und der in einer bedeckten Halle der Lagerburg untergebracht war. Als Aineias durch die Pforte trat, erhob sich lautes Stöhnen, alle Anwesenden schlugen an die Brust, und die Burg dröhnte von Jammer. Wie nun Aineias das Haupt des Pallas, mit dem blassen Angesicht, auf dem Polster erblickte und in der jugendlichen Brust die offene Speerwunde, da rief er, indem ihm die Tränen aus den Augen hervorquollen: "Unglückseliger Knabe, hat dir das trügerische Glück, das dich so schmeichlerisch begleitete, nicht vergönnt, das Reich, das du deinen Freunden gründen halfest, zu schauen und als Sieger in die Heimat zurückzukehren! Nicht solches habe ich deinem Vater Euander versprochen, als er mich beim Scheiden umarmte und sprach: ‚Hüte dich, du gehst in den Kampf mit einem streitbaren und harten Volk!' Weh' uns, vielleicht bringt in diesem Augenblick dein Vater den Göttern Gelübde für dich dar, in welchem wir deinen Leichnam bestatten!" So sprach er weinend und befahl, die Leiche auf ein Geflecht von Eichenzweigen zu legen und ms Lager zu tragen. Dort ward der Jüngling auf einem hohen Grashügel mitsamt der Tragbahre niedergelassen, und lag da nun wie ein gepflücktes Veilchen oder eine welkende Hyazinthenblüte, von welcher Schönheit und Farbenschimmer noch nicht ganz gewichen sind. Aineias selbst brachte zwei purpurne, mit Gold durchwobene Feiergewänder, von Didos eigener Hand gewirkt, herbei; in das eine hüllte er den Leib des Jünglings, das andere schlang er um sein Lockenhaupt. In diesem Schmucke sollte der Tote seinem Vater nach Pallanteum zurückgeschickt werden. Dem Zuge schlössen sich erbeutete Gefangene, Pferde mit Waffen beladen, Akoites, der alte Diener des Jünglings, der sich das Haar zerraufte und die Brust mit Fäusten schlug, und zuletzt Aithon, das Streitroß des Königssohnes, an, das mit gesenktem Kopf einherschritt und Tränen vergoß wie ein Mensch. Dann kamen die Fürsten der Etrusker und Arkadier und ein Trauergefolge von Troianern, alle mit gesenkten Waffen. Aineias sah dem Zuge der Begleitenden nach, bis er aus seinen Augen verschwand, rief dem Toten ein letztes Lebewohl zu und kehrte wieder in das Lager zurück.

Indessen waren aus der Stadt des Latinus Gesandte mit Ölzweigen in der Hand angekommen und flehten um die Erlaubnis, die Leiber der Ihrigen bestatten zu dürfen. Diesen erwiderte Aineias voll Huld, indem er ihnen die Bitte sogleich gewährte: "Welche Verblendung, ihr Latiner, hat euch unsere Freundschaft verschmähen lassen und in diesen großen Krieg verwickelt! Ihr begehret Frieden für eure Toten? Wie gern gewährte ich ihn auch den Lebenden! Auch wäre ich gewiß eurem Lande niemals genaht, wenn dieser Wohnplatz mir nicht durch das Schicksal angewiesen worden wäre. Dazu führe ich keineswegs Krieg mit eurem Volke. Nicht dieses, nur euer König hat unseren Bund verschmäht und sich lieber den Waffen des Turnus anvertraut. Will Turnus den Krieg mit der Faust enden, will er die Troianer durchaus nicht in dem Lande dulden, nun so werfe er sich in seine Rüstung und kämpfe mit mir, Mann für Mann. Behalte dann recht, wem ein Gott und seine Faust das Leben verleiht. Jetzt aber gehet und legt eure armen Mitbürger auf den Scheiterhaufen."

Als die Gesandten so milde Worte aus dem Munde des Troianerfürsten hörten, sahen sie schweigend vor Staunen einander an. Endlich sprach der greise Drances, von jeher ein Feind des Turnus: "Held von Troia, was soll ich mehr an dir bewundern, deine kriegerische Tugend oder deine Gerechtigkeit? Wir gehen, voll Dank unserer Vaterstadt deine Willensmeinung zu verkündigen und, wenn es möglich ist, den König Latinus mit dir zu versöhnen." Alle Gesandten bestätigten diese Rede mit ihrem Beifallsrufe. Es wurde ein Waffenstillstand auf zwölf Tage geschlossen, und nun schweiften in seinem Schütze Latiner und Troianer durcheinander ungefährdet auf den waldigen Berghöhen umher; die Esche, die Fichte sank unter dem Streiche der Axt; die Eiche, die Zeder, die Buche wurde mit Keilen gespalten, und seufzende Wagen, schwer mit Holz beladen, fuhren der Stadt der Latiner zu.

Inzwischen war das Gerücht von dem Tode des Pallas zur Stadt des Euander gedrungen, die bisher nur von den Siegen ihres Königssohnes vernommen und geträumt hatte. Unaussprechliche Niedergeschlagenheit bemächtigte sich des Königs und aller Bürger. Leichenfackeln in der Hand stürzten die Arkadier zu den Toren hinaus, und vom langen Zuge der Flammen leuchtete der Weg. Auf der anderen Seite kam ihnen die wehklagende Schar der Phrygier mit dem Leichnam entgegen.

Als die Frauen der Arkadier den Zug auf die Häuser der Stadt zukommen sahen, erfüllten sie die Straßen mit lautem Heulen. Jetzt vermochte auch den König Euander keine Gewalt mehr zurückzuhalten; er ging der Schar entgegen, und als die Tragbahre niedergestellt ward, warf er sich über die Leiche seines Sohnes und ließ seinem Schmerz in lautem Schluchzen und abgebrochenen Worten des Jammers den Lauf.