Nisos und Euryalos

Unter dem troianischen Heere befanden sich zwei kühne Jünglinge: Nisos und Euryalos. Nisos, ein Sohn des Hyrtalos, einer der besten Speerwerfer und Pfeilschützen, hatte sich aus dem Idagebirge an den auswandernden Helden angeschlossen. Euryalos war der schönste unter allen teukrischen Knaben, und der erste Flaum der Jugend sproßte ihm um die Wangen. Beide waren durch die innigste Freundschaft verbunden, stürzten sich immer zusammen in die Schlacht und hüteten auch jetzt eines der Tore, nebeneinander Wache haltend. "Ich möchte doch wissen", fing da zuerst Nisos an, "ob die Götter uns diese Tatenlust in der Seele aufwecken, oder ob seine blinde Begier einem jeden der Gott ist! Mir ist diese träge Ruhe lästig, und schon lange treibt mich der Geist, etwas Rechtes zu unternehmen. Sieh, wie sich die Rutuler ihrem blinden Vertrauen hingeben! Nur hier und da glänzt um die Mauern ein Feuer, fast alle hegen von Wem und Schlaf begraben da, und das tiefste Schweigen herrscht ringsum. So vernimm denn, Freund, welcher Gedanke in mir aufgestiegen ist. Alle unter uns, Volk und Väter, verlangen, daß Aineias herbeigerufen werde und daß man ihm zu dem Ende sichere Boten zuschicke, die uns Kunde von ihm zurückbringen. Wenn man nun dir, dem Zurückbleibenden, verspräche, was j ich für dich fordern will - denn mir genügt an der Ehre - was ' meinst du? Ich könnte am Fuße des Hügels dort den Weg j nach dem Tuskerlande und den Berg von Pallanteum wohl finden!"

Euryalos wurde von Staunen bei dem Vorschlage seines Freundes ergriffen, denn auch ihn beseelte jugendliche Ruhmbegierde. "Also wolltest du", sprach er zu seinem feurigen Genossen, "mich, den unbärtigen Knaben, als Teilnehmer an der herrlichen Tat verschmähen? Wie könnte ich auch dich allein in eine solche Gefahr hinauslassen! Nein, so hat mich mein Vater Opheltes nicht erzogen, und auch du hast mich bisher nicht so kennen gelernt. Auch ich achte das Leben gering und erkaufe willig mit ihm den Ruhm!" - "Nie habe ich so etwas von dir befürchtet", erwiderte Nisos, "aber wenn mich irgendein Unfall, oder ein Gott, wie es bei solchen Entschlüssen wohl zu gehen pflegt, ins Verderben risse, so wünsche ich, daß du mich überlebtest. Deine Jugend ist des Lebens werter als ich. Auch hätte ich gern einen, der meinen Leichnam aus der Schlacht gerettet, oder mit Lösegeld erkauft, in den Boden verscharrt oder, wenn dies Glück mir nicht beschieden wäre, wenigstens dem Abwesenden ein Totenopfer brächte und einen Denkstein errichtete. Wie könnte ich auch deiner armen Mutter, die allein von so vielen Müttern es verschmäht hat, in Sizilien zurückzubleiben und dir auf die weite Wanderung gefolgt ist, so bitteren Schmerz bereiten?" Aber Euryalos erwiderte: "Du hältst mir umsonst nichtige Beweggründe vor, mein Vorsatz ist unerschütterlich, laß uns eilen." So sprach er und weckte zugleich die nächsten Wachtposten, die zur Ablösung bestimmt waren. Nachdem sie diesen das Wächteramt übertragen hatten, eilten sie beide vor den hohen Rat der Troianer. Denn die Fürsten des Heeres berieten sich bis tief in die Nacht hinein über die wichtigsten Angelegenheiten der neuen Pflanzung. Während sie nun mitten im Lager, an die Speere gelehnt und auf die Schilde gestützt, im Kreise standen und Rat darüber pflogen, was zu beginnen sei und wer dem Aineias die Nachricht zu bringen hätte, da baten Nisos und Euryalos herbeigeeilt um augenblicklichen Zutritt in die Versammlung. Askanios, der an seines Vaters Stelle, so jung er war, im Rate saß, hieß die Ungeduldigen eintreten und Nisos als den älteren zuerst reden. "Höret uns günstig an", sprach dieser zu den Helden, "und messet, was wir euch vorschlagen, nicht nach den Jahren ab. Wir haben die Gegend ausgekundschaftet. Dort, am Scheidewege des Tores, das wir bewachen, in der Nähe des Meeres, finden sich Lücken in den Wachtfeuern der Feinde; dort ist Raum um sich durchzuschleichen. Wenn ihr uns erlaubt, das Glück zu benützen, so wollen wir als Boten zu Aineias gehen, und ihr sollt uns bald mit Begleitern und mit Beute zurückkehren sehen."

Mit Bewunderung vernahmen die Helden den Entschluß der Jünglinge. "Nun, ihr Götter", rief Aletes, der Ergrauteste unter ihnen aus, "ihr seid noch nicht gesonnen, die Troianer zu vertilgen, da ihr uns so entschlossene Jünglingsherzen erwecket!" so sprach er und legte seine Hände auf beider Schultern. Dann rief der zarte Jüngling Askanios: "Guter Nisos, lieber Euryalos, in eueren Schoß lege ich mein Glück und meine Hoffnung, lasset mich meinen Vater wieder schauen! Wenn er zurück ist, ängstigt mich nichts mehr. Zwei silberne Becher, zwei köstliche Dreifüße, zwei Talente Goldes, den schönen alten Krug, den Dido meinem Vater geschenkt hat, das alles sollt ihr jetzt schon haben, und wenn wir siegen, noch viel mehr. Hast du das herrliche Roß gesehen, Nisos, das Turnus reitet und seine goldene Rüstung? Sie seien dein. Zwölf Gefangene wird euch mein Vater verleihen, Männer mit vollen Waffenrüstungen, und Frauen und vom Felde des Latinus herrliche Güter. Du aber", so sprach er zu Euryalos gewendet, "verehrter Jüngling, dessen Jugend meine Jahre nachstreben, dich begrüße ich jetzt schon von ganzem Herzen als Kampfgenossen und unzertrennlichen Freund." Darauf nahm Euryalos das Wort: "Es soll kein Tag kommen", sprach er, "an dem ich mich meines tapferen Entschlusses unwürdig zeige. Aber vor allen Geschenken bitte ich dich um eines, Iulos. Meine Mutter, vom alten Königsgeschlechte des Priamos stammend, wie du, hat sich nicht abhalten lassen, mit mir auszuwandern, und ich verlasse sie ohne Abschied, denn ich könnte ihren Tränen nicht widerstehen. Nimm du dich der Verlassenen an, tröste sie in der Not, wenn das Schicksal mich nicht zurückkehren läßt!" In der Seele des Askanios erwachte bei diesen Worten die Liebe zum Vater noch heftiger, er fing laut zu weinen an und versprach ihm unter Tränen alles. Auch die Helden ergriff tiefe Rührung; Mnestheus zog sich die Löwenhaut von der Schulter und warf sie dem Nisos um; Aletes tauschte mit ihm den Helm, und Euryalos empfing aus der Hand des Iulos sein eigenes Schwert mit goldenem Griff, in der Scheide von Elfenbein.

So gewaffnet wurden sie von allen Edeln, Jünglingen und Greisen, bis ans Tor begleitet. Bald waren sie über die Gräben hinaus und kamen im Dunkel der Nacht an die schlafenden Posten der Rutuler. Diese lagen voll Trunks und Schlafes zerstreut auf dem Rasen, zwischen Wagenrädern, Riemen und umherliegenden Waffen. "Die Gelegenheit ruft", sprach Nisos leise zu seinem jungen Freund, "halte du mir den Rücken frei, ich will dir aufräumen und uns eine Gasse machen." Während er so mit gedämpfter Stimme sprach, hieb er den ersten Wächter, den Vogelschauer des Königs Turnus, Rhamnes, der aus voller Kehle schnarchend dalag, samt drei sorglosen Knechten nieder; dann den Waffenträger des Remus, den er mitten unter seinen Rossen überraschte und ihm den gesenkten Hals abhieb und dann den Herrn selbst. Auch Euryalos war nicht müßig; beide tobten wie Löwen in den Hürden und richteten ein furchtbares Gemetzel unter den Wächtern an. Ja, Euryalos drang schon bis zu den Wachtfeuern des Rutulerfeldherrn Messapus vor, die im Verglimmen waren und dessen angebundene Wagenrosse gemächlich das Gras abweideten. Aber Nisos rief ihn zurück. "Siehst du nicht", sprach er warnend, "daß das Morgenlicht schon anzubrechen droht? Rache ist ja geübt und Bahn gebrochen." So ließen sie auch alle Beute liegen, und Euryalos nahm nur den Pferdeschmuck des Rhamnes mit und schlang sich seinen Schwertgurt um die Schulter; auch setzte er sich freudig den bebuschten Helm des Messapus aufs Haupt, den er bei den vordersten Wachtfeuern aufgelesen und der ihm gerade paßte. Darauf verließen sie das feindliche Lager und gewannen das Freie.

Aber um dieselbe Zeit zogen auf der Latinerstraße dreihundert Reiter mit Schilden unter ihrem Führer Volscens, welche dem Fürsten Turnus Botschaft vom König zu bringen hatten, dieser Straße. Sie waren schon ganz nahe am Lagerwall, als sie von fern die beiden eilenden Gestalten bemerkten und im dämmernden Frührot den unbesorgten Euryalos der erbeutete Helm mit seinem tückischen Schimmer verriet. "Bewaffnete Männer", schrie Volscens bei diesem Anblick, "wo eilet ihr hin?" Jene antworteten nicht, sondern flüchteten sich in den Wald und vertrauten auf die Dämmerung. Aber die Reiter, der Nebenwege kundig, warfen sich in das Gehölz und versperrten alle Ausgänge mit Wachen. Der Wald war mit dichten Eichen und wilden Gesträuchern bewachsen, und kaum sichtbar schimmerte der Fußpfad durch das Dickicht. Den Euryalos hemmte die Beute, und die Furcht täuschte ihn über die Richtung des Weges. Nisos aber entkam glücklich aus dem Walde und eilte schon sorglos auf die Seen zu, die später den Namen Albanersee erhielten. Jetzt erst stand er still und sah sich vergebens nach dem fehlenden Freunde um. "Euryalos", rief er wehklagend, "wo bist du, Armer, wo find' ich dich?" Und nun warf er sich aufs neue in den verworrenen Wald. Dort vernahm er bald Rossegestampf, Lärm und die Trompeten der Nachhut, und es währte nicht lange, so ward er des ganzen Reitergeschwaders ansichtig, das den übermannten Euryalos mit sich fortschleppte. Was sollte er tun? Welche Hoffnung war, den armen Jüngling zu befreien? Sollte er sie aufgeben und sich den Tod in den starrenden Schwertern suchen? Er hielt inne, dann drehte er mit zurückgebogenem Arme plötzlich den Speer empor, und zum Monde emporblickend, der blaß am morgendlichen Himmel stand, betete er: "Luna, Beschützerin der Wälder, Latonas Tochter, wenn dir je mein Vater für mich geopfert, wenn ich selbst je dir meine Jagdbeute geweiht, lenke meinen Speer und laß mich diese Rotte zerstreuen!" So sprach er und schleuderte mit Leibeskraft seine Lanze. Diese drang dem abgekehrten Rutuler Sulmoinden Rücken und zur Brust heraus, daß er sich zuckend auf dem Boden wälzte. Erschrocken schauten sich die Reiter in der Runde um. Da flog das zweite Geschoß des Nisos und durchbohrte einem anderen Rutuler, dem Tagus, knirschend beide Schläfen. Volscens, der Anführer der Reiter, geriet in Wut, denn nirgends erblickte er den Speerschwinger; grimmig rief er: "So bezahle denn du mir mit deinem Blute für beide!" und ging mit entblößtem Schwerte auf den Euryalos los. Vor Entsetzen schreiend, brach Nisos jetzt aus seinem Versteck hervor. "Ich bin der Täter", rief er, "auf mich nur richtet eure Schwerter, der ganze Betrug rührt von mir her! Ich schwör' es euch, dieser ist unschuldig, nur Liebe zum unglücklichen Freund war sein Vergehen!" Sein Rufen kam zu spät, Volscens hatte dem Knaben schon das Schwert durch die Brust gestoßen; dieser wälzte sich im Tode, die schönen Glieder überströmte das Blut, und sein Hals neigte sich auf die Schulter, wie eine purpurene Blume vom Pfluge durchschnitten dahinsinkt, wie ein blühender Mohnstengel sein vom Regen belastetes Haupt zur Erde senkt. Da warf sich Nisos in den Feind, stieß den Andrang der Reiter rechts und links zurück, ging gerade auf den Führer Volscens los und bohrte sein blitzendes Schwert in des schreienden Feindes Mund, daß er sterbend vom Rosse fiel. Dann warf er sich über den Leib seines getöteten Freundes und ruhte, ganz von den Geschossen der Reiter durchbohrt, über dem Leichnam im Frieden des Todes.

Die Reiterschar zog den erschlagenen Feinden die Rüstung ab, trug ihre Leichname mit dem ihres Anführers Volscens in das Lager des Turnus, und bald mußten die Troianer von den Türmen ihres Lagers herab mit Grausen die von schwarzem Blute noch triefenden gespießten Köpfe der beiden Jünglinge schauen, die sie mit so zuversichtlichen Hoffnungen entlassen hatten. Die Kunde des Unglücks verschonte auch die Mutter des Euryalos nicht. Sie wurde von ihr am Webstuhl über der Tagesarbeit getroffen. Da entrollte das Schifflein ihren Händen, sie zerraufte sich das Haar, sie rannte nach dem Walle in die vordersten Reihen der Streiter, keine Gefahr achtend und brach in ein Klagegeheul aus, daß es die festesten Krieger erschütterte. Unter vielen Tränen befahl endlich Iulos und mit ihm der weise Ilioneus zwei alten Helden, sie aus den Reihen der Männer hinwegzuziehen und in die Wohnung zu geleiten.